Hier ist der ein paar Mal angekündigte Essay, der durch unsere Queer-Diskussion angeregt wurde. Wer ihn lieber als pdf Datei zugeschickt haben möchte, schicke mir eine PN oder Mail.
Vielfalt der Geschlechter? – Ideologie oder Paradigmenwechsel?
Gedanken zu einem aktuellen Thema von Michael A. SchmiedelFrüher war alles so schön einfach beziehungsweise zweifach: Es gab männlich und weiblich, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Männchen und Weibchen. Fertig!
Heute gibt es männlich, weiblich, intersexuell, asexuell, transgender, transsexuell (wobei dieser Begriff schon wieder „out“ sein soll), cissexuell und noch einiges mehr. (1)
Außerdem unterscheidet man zwischen Sex und Gender, also dem biologischen und dem kulturellen Geschlecht.
Neben diesen geschlechtlichen Identitäten unterscheidet man noch die Orientierungen, also welche Geschlechtspartner man bevorzugt: heterosexuell, homosexuell, bisexuell. Darüber hinaus auch noch diverse Vorlieben für sexuelle Praktiken. Und dann gibt es noch Zoophilie und Pädophilie.
Man muss also auseinanderhalten, ob man die Identität oder die Partner*innenrorientierung eines Menschen meint.
Und all diese Identitäten, Orientierungen und Vorlieben gibt es in unterschiedlichen Intensitäten und Kombinationen.
Das ist Wirklichkeit.
Aber was ist Wirklichkeit?
In verschiedenen Diskussionen über das „Genderthema“ bemerke ich, dass hier Interessen aufeinanderprallen. Schimpfwörter fallen: „Schwuchtel“, „Tunte“, „Transe“, „homophober Nazi“.
Es formieren sich zwei Lager: Vielfaltpostulierer versus Zweifaltbewahrer.
Der Geschlechterkampf ist somit komplizierter geworden. Nicht mehr nur Männer gegen Frauen, Machos gegen Emanzen, sondern die, die sich als irgendwie anders, als queer, verstehen gegen die, die meinen genau zu wissen, ob sie Männlein oder Weiblein sind und auf das „oder“ großen Wert legen. Unter denen, die ihrer eigenen geschlechtliche Identität ohne größere Problem in die Männlich-Weiblich-Dichotomie einordnen können und sich als heterosexuell und cisgender verorten, gibt es aber auch Anwälte der Selbstbestimmung, der Menschenrechte und der daraus erwachsenen Vielfalt an Möglichkeiten und Realisierungen. Zu dieser Gruppe zähle ich mich.
Ich fühle mich als Mann, der aber nicht mit allen männlichen und weiblichen Rollenklischees einverstanden ist. Über das männliche Röcketragen in einer Gesellschaft, in der Röcke mehrheitlich als weibliche Kleidung angesehen werden, habe ich anderswo schon viel geschrieben, so dass ich das hier nicht expliziere. (2)
Was mich nun aber interessiert: Was ist in Bezug auf die geschlechtlichen Identitäten objektive Wirklichkeit und was interessegeleitete Etikettierung? Der Ideologievorwurf wird von beiden Seiten den Gegnern an den Kopf geworfen. „Von beiden Seiten“? Das ist schon wieder eine Dichotomie. Gibt es nur zwei Seiten oder viele?
Die Unterscheidung zwischen Sex und Gender hilft vorübergehend weiter. Auf der einen Seite haben wir ein biologisches, körperliches, von Chromosomen und Hormonen bestimmtes Geschlecht (Sex) und auf der anderen Seite die kulturell konstruierten Rollenvorstellungen und Verhaltensweisen, die mit diesen Geschlechtern verbunden werden (Gender).
Biologisch ist nach neueren Forschungen aber auch nicht jeder Mensch männlich ODER weiblich. Sowohl primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, als auch die Kombination von x- und y-Chromosomen können variieren. Zumindest ersteres kennt man in der Biologie und Medizin schon lange. Begriffe wie „Zwitter“ und „Hermaphrodite“ kamen auf. Letzteres, die Vielfalt an Kombinationsmöglichkeiten der x- und y-Chromosomen, ist neu. In beiden Fällen ist damit aber noch nicht die Frage beantwortet: Ist diese biologisch wahrnehmbare Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten von Chromosomen und Merkmalen natürlich oder unnatürlich beziehungsweise gesund oder krank? Man könnte sagen, natürlich seien sie natürlich, denn sonst kämen sie in der Natur nicht vor. Kulturelle Hervorbringungen, die man als unnatürlich bezeichnen könnte, sind sie ja nicht. Aber sind sie gesund? Insofern die Menschen mit nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Chromosomensätzen oder Geschlechtsmerkmalen leben können, ohne darunter zu leiden und ohne deswegen früher zu sterben, wäre der Diagnose, es sei gesund, nichts entgegenzusetzen.
Aber wie sieht es mit der Fortpflanzung aus? Ich lernte mal von einem Biologen, der Sinn jedes Lebens sei, so lange wie möglich zu überleben und sich fortzupflanzen. Demnach wäre jedes Leben eines Lebewesens, das sich nicht fortpflanzt sinnlos. Aber ist die Frage nach dem Sinn überhaupt eine biologische? Oder ist es nicht ein Kategorienfehler, sie in der Biologie zu stellen? Jein, denke ich. Sie ist eine philosophische Frage, aber jeder Mensch darf philosophieren, auch ein Biologe. Zudem sind die Naturwissenschaften eine wichtige Grundlage der Naturphilosophie. Und trotzdem: Wie kommt ein Biologe auf diese Frage und seine Antwort darauf? Er beobachtete, dass jedes Lebewesen sowohl einen Überlebens-, als auch einen Fortpflanzungstrieb hat; nicht unbedingt jedes Individuum, aber in jeder Art mehrheitlich die Individuen. Individuen ohne Überlebenstrieb überleben nicht lange. Individuen ohne Fortpflanzungstrieb, pflanzen sich nicht fort. Arten, deren Individuen mehrheitlich einen der beiden Triebe nicht haben oder aber zwar beide Triebe haben, damit aber erfolglos sind, sterben aus. Der Biologe sagte zwar, dass die Arterhaltung nur die Folge, aber nicht die Absicht der Individuen sei, da die meisten Lebewesen nicht über ihre Art nachdächten, aber es könnte ja immerhin ein unbewusster Sinn sein, durch Fortpflanzung die Art zu erhalten oder das Leben generell. Wenn man jetzt davon ausgeht, dass nichts in der Natur ohne Sinn existiert, könnte man von dieser Feststellung auf die Sinnhaftigkeit von Überleben und Fortpflanzung schließen.
Ein interessanter Gedanke ist aber dieser: Wenn sich genug Individuen einer Art fortpflanzen, um die Art zu erhalten, könnten andere Individuen ihrer Art auch ohne eigene Fortpflanzung nützen. Die meisten Bienen und Ameisen pflanzen sich nicht fort, auch die meisten Wölfe nicht, aber alle gemeinsam sorgen dafür, dass der Staat oder das Rudel sich fortpflanzt und überlebt, indem sie für Nahrung sorgen und für die Verteidigung gegen Angreifer. Bei Bienen und Ameisen gibt es pro Staat eine Königin, also ein einziges fruchtbares Weibchen, einige Drohnen, also fruchtbare Männchen, die sich mit der Königin paaren und jede Menge so genannter Arbeiterinnen, die einerseits als unfruchtbare Weibchen, andererseits als ein drittes Geschlecht gelten. In einem Wolfsrudel paaren sich ein Alpharüde und eine Alphawölfin miteinander. Die anderen Rudelmitglieder sind aber nicht unfruchtbar, sondern auch unter ihnen könnten sich die Rüden mit den Wölfinnen paaren, aber sie tun es nicht. Der Unterschied ist also der, dass sich die Arbeiterinnen unter den Ameisen und Bienen nicht fortpflanzen können, die nicht ranghöchsten Wolfsrüden und Wölfinnen es könnten, aber nicht tun. Das Gemeinsame ist, dass ihre Nichtfortpflanzung der Gemeinschaft, der sie zugehören, nützt, und damit auch dem Arterhalt, denn sie unterstützen ihre Gemeinschaft auf andere Weise.
Die Männlich-Weiblich-Dichotomie ist bei den Wölfen nicht durchbrochen. Bei den Ameisen und Bienen eventuell schon, wenn man die Arbeiterinnen als eigenes, drittes Geschlecht wahrnimmt. Aber wenn man sie als unfruchtbare Weibchen wahrnimmt, ist sie nicht unterbrochen.
Also entscheidet die Wahrnehmung darüber, wie viele Geschlechter es gibt? Ist die Frage, wie viele Geschlechter es gibt keine ontologische, sondern eine epistemologische? Verhält es sich so, wie mit der Frage, ob Energie auf Wellen oder auf Teilchen beruht, die sich je nach Beobachtungsmethode verschieden beantworten lässt? Lässt sich so auch die Frage, ob es zwei oder mehr Geschlechter gibt nicht objektiv und ontologisch, sondern nur epistemologisch in Abhängigkeit von der Beobachtungsmethode beantworten?
Sollte das der Fall sein, hinge viel von der Wahl der Beobachtungs- oder Wahrnehmungsmethode ab. Beobachte ich die Chromosomen, die körperlichen Geschlechtsmerkmale oder – bei Menschen, auf die ich jetzt wieder zurückkommen will – das subjektive Empfinden des jeweiligen Menschen?
Hier sind Entscheidungen zu treffen! Doch wonach orientiere ich mich bei der Entscheidungsfindung? Wonach orientiere ich mich als einzelner Mensch bei meinen subjektiven Empfindungen? Gibt es nur dermaßen von Entscheidungen und Empfindungen abhängige Wirklichkeit?
Unter den Genderforscher*innen gibt es welche, die behaupten, hinter den Repräsentationen von Wirklichkeit, gebe es nichts, sondern es gebe nur die Repräsentationen. Sie seien rein imaginär, sozial kommuniziert und würden nur eben von vielen Menschen fälschicherweise als Verweise auf eine hinter ihnen liegende Wirklichkeit angesehen. Es gebe also kein Männlich und kein Weiblich an sich, sondern nur für uns, nur als Vorstellung, nur als Konstrukte.
Der Konstruktivismus ist mir einigermaßen vertraut, ja ich denke selber hauptsächlich konstruktivistisch. Darüber habe ich an anderer Stelle schon einiges geschrieben, so dass ich ihn hier nicht nochmal erkläre. (3) Im Konstruktivismus wird die Einstellung, dass es nichts außer oder hinter den Konstrukten gebe, als „Solipsismus“ bezeichnet. Solipsismus wird aber selbst im radikalen Konstruktivismus abgelehnt. Lediglich wird gesagt, dass wir nur über die Konstrukte Zugang zu der Wirklichkeit dahinter hätten, also keinen direkten Zugang. Eine Behauptung bezüglich einer Wirklichkeit hinter den Konstrukten wird als ontologisch bezeichnet, während Konstruktivisten den Konstruktivismus als Epistemologie verstehen. Insofern ist die Behauptung, es gebe hinter den Konstrukten keine Wirklichkeit, die von ihnen unabhängig sei, selber eine ontologische Behauptung.
Im radikalen Konstruktivismus gibt es eine Verbindung zwischen den Konstrukten und der Wirklichkeit dahinter, und zwar die Viabilitätsprüfung. Ein Konstrukt gilt als viabel, solange ich mit ihm nicht an ein Hindernis gerate, das mir eine Weiterorientierung mit diesem Konstrukt verunmöglicht. Das ist der berühmte Baum, der mir beim nächtlichen Gang durch den Wald plötzlich im Weg steht und mir zeigt, dass meine Vorstellung, ich könne genau diesen Weg gehen, den ich mir ausgesucht habe, ungangbar ist, also nicht viabel.
In Bezug auf die Geschlechterfrage kann oder muss man hier also untersuchen, wie weit ich mich mit der Vorstellung von zwei Geschlechtern und wie weit mit der von mehr als zwei Geschlechtern erfolgreich orientieren und fortbewegen kann?
In der Wissenschaft heißt das: Wie weit kann ich behaupten, es gebe zwei oder es gebe mehr Geschlechter, bis diese Behauptung, diese These auf einen Widerstand stößt, der die falsifiziert. Das gilt im Grunde nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für das Alltagsleben. Und es gilt auch für die Religion. Die Unterschiede zwischen Wissenschaft, Alltagsleben und Religion liegen vor allem in den Viabilitätsprüfungen, die auch Verifizierungsprüfungen sind. Kann ich mit einer Vorstellung weiter gehen ohne gegen einen Baum zu laufen, ist sie viabel und somit vorläufig verifiziert. Laufe ich gegen einen Baum, ist meine Vorstellung als nicht viabel erwiesen und somit falsifiziert.
Die Viabilität von Theorien, Thesen, Ansichten, Meinungen und so weiter wird anhand ihrer sachlichen Plausibilität überprüft:
In den verschiedenen Wissenschaften überprüft man Thesen durch Logik, durch Experimente, durch Beobachtungen, durch Umfragen und andere Methoden, die ihrerseits immer wieder auf ihre Viabilität, also Brauchbarkeit für die betreffenden Fragestellungen überprüft werden.
Im Alltagsleben überprüft man die eigenen Vorstellungen, indem man schaut, ob man mit ihnen technische, wirtschaftliche, soziale, psychische und andere Lebensaufgaben lösen oder bewältigen kann. Das geschieht allerdings zumeist nicht systematisch oder methodologisch, sondern eher zufällig, ungeordnet, situationsabhängig.
In den Religionen überprüft man die eigenen Vorstellungen indem man sie mit religiösen Normen vergleicht, also mit heiligen Schriften oder mündlichen Überlieferungen oder mit eigenen spirituellen Erfahrungen. Die Gültigkeit dieser Normen wird indes häufig nicht hinterfragt, da diese als sakrosankt gelten. Und doch gibt es immer wieder Reformer und Revoluzzer unter den Religiösen, die die Normen ihrer Religion hinterfragen und sie anhand anderer Normen überprüfen. Das ist auch eine Art von Viabilitätsprüfung.
Alle drei genannten Felder, die Wissenschaft, der Alltag und die Religion bewegen sich aber zudem in einem sozialen und politischen Raum, in welchem Viabilitätsprüfungen ganz eigener Art vor sich gehen, die in diese drei Felder hineingreifen, oft sogar einen Rahmen oder Grundbedingungen für diese liefern. In diesem sozialen oder politischen Raum entscheiden soziale Plausibilitäten über die Viabilitäten von Konstrukten. Wir Menschen parallelisieren unsere Ansichten miteinander. So entsteht das, was im sozialen Konstruktivismus die „gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ genannt wird. (4) So entstehen Kommunizierbarkeit, Zeitgeist, Mode, allgemeiner Wille, politische Durchsetzbarkeit, Konsens und so weiter. Auf diese Weise kommen Wörter, Redewendungen, Sprachspiele, aber auch Denk- und sogar Fühlweisen in Umlauf, und zwar zumeist ohne, dass die Menschen, die daran mitwirken, das bewusst mitbekommen.
Auf diese Weise entstehen auch immer wieder neue Möglichkeiten individueller Identität im Rahmen kollektiver Bedingungen. Es spielen hier aber auch individuelle psychische Dispositionen eine Rolle, also ob man eher ein Herdentier, ein Mitläufer ist oder eher ein selbständiger, eigensinniger Denker, ob soziale oder sachliche Plausibilität für einen wichtiger ist und ob man dazu neigt, andere Menschen anzuleiten, zu befehligen, zu kommandieren, ob man sich gerne unterordnet und Anordnungen anderer Menschen folgt oder ob man lieber für sich ist und andere sein lässt, wie sie sind.
Unter diesen letztlich recht chaotischen Bedingungen kommunizieren Menschen miteinander und handeln ihre Weltbilder, Ansichten, Konstrukte aus, überprüfen, wie weit sie damit kommen, korrigieren sie gegebenenfalls, je nach Zentralität oder Marginalität ihrer Konstrukte und nach den Zwängen der Rahmenbedingungen.
So scheint mir auch die Frage nach der Zahl vorhandener Geschlechter nicht eindeutig, als unabhängig von den genannten Rahmenbedingungen beantwortbar. Es drängt sich keine Antwort auf oder vielmehr: Es drängt sich nicht jedem dieselbe Antwort auf. Die Antwort hängt ab von Präferenzen, und diese hängen ab von Lebensbedingungen und damit zusammenhängenden Wahrnehmungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten. Die Beantwortung der Frage nach der Zahl der Geschlechter ist interessegeleitet.
Es gibt Menschen, für die ist es not-wendig, mehr als zwei Geschlechter als wahr und wirklich anzuerkennen. Sie befinden sich durch die Konstruktion von nur zwei Geschlechtern in einer Notlage, die sie durch die Erweiterung auf mehr Geschlechter wenden können. Und es gibt Menschen, die keine solche Not erleben und demzufolge keine Not-wendigkeit in der Erweiterung ihrer Geschlechterkonstruktion sehen. Und es gibt Menschen, die durch die Konfrontation mit einem mehrgeschlechtlichen Weltbild in eine Not geraten, die sie durch ein Beharren auf der zweigeschlechtlichen Vorstellung abwenden wollen.
Die Wissenschaften werden je nach empfundener Not mal zur Untermauerung des einen, mal des anderen Weltbildes herangezogen, und ihre sachliche Plausibilität befindet sich zudem in den Rahmenbedingungen der sozialen Plausibilität, je nach dem aber auch in Konkurrenz zu dieser. Ebenso geht es den Religionen. Und auch die Alltagserfahrungen taugen nicht als unabhängige Schiedsrichter, da auch Erfahrungen abhängig sind von Interessen und selektiver Wahrnehmung.
Es hilft nichts, wir kommen nicht drum herum, Entscheidungen zu treffen. Und wir müssen uns entscheiden, nach welchen Kriterien wir Entscheidungen treffen und wie wir sie Kriterien und die Entscheidungen kommunizieren. Wir müssen uns entscheiden, an welchen moralischen, ethischen Vorentscheidungen wir uns orientieren. Und wir müssen uns entscheiden, ob wir unsere Moral verantworten wollen und wenn ja, vor wem.
Entscheidungen zu fällen fällt aber nicht jedem Menschen gleich leicht. Viele Menschen überlassen das lieber anderen, sei es den Anführern, Vorgesetzten, Ranghöheren, sei es der Masse, der Mehrheit, der Allgemeinheit. Die allermeisten Menschen passen sich dem an, was für sie sozial plausibel ist. Das ist eine alte Überlebensstrategie, da sie den Zusammenhalt von Kollektiven bewirkt, die den Individuen Schutz vor den Unbilden und Gefahren des Lebens bieten. Sich gegen sie soziale Plausibilität des eigenen Kollektivs, der eigenen Gesellschaft, Gruppe, Familie, Sippe, Religionsgemeinschaft, Partei und so weiter zu stellen, setzt entweder die Erfahrung einer großen Not voraus, die man innerhalb der geltenden sozialen Plausibilität, innerhalb der geltenden und gängigen Normen und Werte, Gesetze und Gebote, innerhalb des „man tut dies und nicht jenes“ nicht wenden kann oder eine innere, psychische, geistige oder auch äußere politische, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit oder eine Kombination von beidem. Wer gegenüber der sozialen Plausibilität deviante Konstrukte herstellt, kann sich aber auch innerhalb des größeren Kollektivs unter Umständen ein Unterkollektiv schaffen, wenn er*sie sich mit Gleichgesinnten zusammentut. In diesen Unterkollektiven, Teilgesellschaften, Subkulturen können wiederum eigene soziale Plausibilitäten entstehen, die zu der im Überkollektiv in einer Konkurrenz stehen. Und es ist möglich, dass von diesen Unterkollektiven in Richtung des Gesamtkollektivs erfolgreich kommuniziert wird, so dass sich die sozialen Plausibilitäten des Gesamtkollektivs ändern. Das wäre dann das, was man einen Paradigmenwechsel nennt.
In dieser Situation befinden wir uns momentan bei der Frage nach der Zahl existierender Geschlechter. Die Menschen, die sich dafür entschieden haben, die Wirklichkeit im Sinne einer Geschlechtervielfalt zu konstruieren, haben durch entsprechende wissenschaftliche Unterstützung nicht nur sachlich plausible Argumente, sondern aufgrund des hohen Ansehens der Wissenschaft in unserer Gesellschaft auch eine höhere soziale Plausibilität erlangt.
Dass aber den wissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassungen auch Entscheidungen vorausgehen, habe ich oben dargelegt.
Ich möchte nun einen Vorschlag machen, nach welchen Kriterien wir unsere Entscheidungen in dieser Frage fällen sollten:
Ich schlage vor, von der konstruktivistischen Grundannahme auszugehen, dass unser Denken vor allem den Zweck hat, uns eine erfolgreiche Orientierung in unserer natürlichen und sozialen Um- oder Mitwelt zu ermöglichen und unsere innere Äquilibration, unser mentales und emotionales inneres Gleichgewicht zu erhalten.
Ein allgemeines, kulturunabhängiges Kriterium für das zwischenmenschliche Miteinander ist es, Konflikte auf ein notwendiges Maß zu reduzieren und das gemeinsame Wohl über das Wohl Einzelner zu stellen. Notwendig wird ein Konflikt, wenn nur durch ihn eine vorhandene Not gewendet werden kann. Beim Verfolgen individueller Interessen ist also abzuwägen, ob man sich in einer Notsituation befindet oder nicht und ob die Behebung der individuellen Not einen Schaden für andere Individuen oder die Gemeinschaft bedeutet oder nicht. Sinnvoll ist es, die Goldene Regel anzuwenden, also andere Menschen so zu behandeln, wie man selber behandelt werden möchte. Das Risiko, eigene Interessen auf Kosten anderer Interessen durchzusetzen, wird dadurch geringer.
Menschen möchten normalerweise eine Deutungshoheit über ihre eigene Identität haben, auch dann, wenn sie sich entscheiden, sich einer vorgegeben, kollektiven Identität anzupassen. Eine allgemeine Konstruktion von nur zwei Geschlechtern würde aber die Deutungshoheit einiger Menschen über ihre eigene Identität verunmöglichen. Eine allgemeine Konstruktion mehrerer Geschlechter würde umgekehrt niemandem vorschreiben, wie er*sie seine*ihre eigene geschlechtliche Identität zu konstruieren habe. Jede*r hätte die Deutungshoheit über die eigene Identität, auch die Menschen, die sich als heterosexuell und/oder cisgender konstruieren. Es hätten nur die Menschen einen Nachteil davon, die mentale oder emotionale Probleme damit haben, sich mehr als zwei Geschlechter vorzustellen und mit Menschen zu interagieren, die ihre eigene Identität anders als eindeutig männlich oder weiblich konstruieren. Da dieses Problem aber nicht die Deutungshoheit über die eigene Identität betrifft, sondern nur die über die Identitäten anderer Menschen, erscheint mir die Dringlichkeit dieses Problems zweitrangig. Und doch sollte man im Sinne des allgemeinen Wohls diese Menschen nicht alleine lassen, sondern ihnen helfen, mit der Vorstellung einer größeren Geschlechtervielfalt zurechtzukommen.
Wenn Menschen miteinander konstruktiv kommunizieren und aufeinander Rücksicht nehmen, verringert sich die Gefahr, die eigene Weltsicht zu ideologisieren. Und „Ideologisierung“ verstehe ich hier eine Behauptung, die eigene Weltsicht sei allgemeingültig und alleine richtig und wahr.
Entsprechend der Psychologie der persönlichen Konstrukte konstruieren wir Menschen unsere Weltbilder üblicherweise bipolar. Dem würde dann auch ein zweigeschlechtliches Weltbild entsprechen. Zugleich wird in der Psychologie der persönlichen Konstrukte aber auch die Kreativität der Menschen hervorgehoben. Das heißt, dass die Männlich-Weiblich-Bipolarität zwar ein gerne und oft gedachtes Paar bildet, dass es aber dem Menschen nicht unmöglich ist, darüber hinaus zu denken. Wie stark die Fähigkeit, über schon gebildete Konstrukte hinauszudenken ist, hängt von der Zentralität dieser Konstrukte ab. Menschen, für die die Männlich-Weiblich-Dichtotomie ein sehr wichtiger, zentraler Bestandteil ihres Weltbildes ist, werden größere Schwierigkeiten mit dem Weiterdenken haben als die, für die es weniger wichtig, marginaler ist. Je zentraler ein Konstrukt für jemanden ist, desto eher neigt der Mensch zur Ideologisierung und zu Absolutheitsansprüchen. Will man eine vorhandene Ideologisierung aufbrechen, muss man den ideologisierten Konstrukten also ihre Zentralität nehmen. Diese Taktik ist nicht neu: Diskussionsgegnern zu unterstellen, ihre Wertungen seien unwichtiger als die eigenen, ist ein beliebtes Mittel´, um die eigene Meinung als wichtiger und richtiger hinzustellen. Das Problem dabei ist aber, dass sich der Diskussionsgegner so oft als Person geringgeachtet fühlt, was ihn für die eigentlichen Argumente nicht gerade aufgeschlossener macht. Eher macht er zu und wartet auf eine Gelegenheit zum Gegenschlag. Ein solches Vorgehen entspräche also nicht der Goldenen Regel.
Die Goldene Regel anwendend wäre es zunächst wichtig, aus dem Diskussionsgegner einen Dialogpartner zu machen, den ich nicht besiegen will, sondern mit dem zusammen ich mich auf die Wahrheitssuche begebe. Die Goldene Regel selber als Konstrukt von hoher Zentralität zu konstruieren, wäre ein wichtiger Sieg für alle am Gespräch beteiligten Menschen. Sie ist eine hervorragende Ausgangsbasis, um nicht nur die Durchsetzung der eigenen Interessen, sondern das Wohl aller zum gewünschten Ziel des Dialogs zu machen. Ist das erstmal erreicht, so gilt es, sich im Perspektivenbewusstsein zu üben, also in der Fähigkeit, die eigenen Konstrukte in Relation zu den eigenen Gewohnheiten zu sehen, die wiederum von vielem abhängen, und ebenso die Konstrukte anderer Menschen. Durch Relativierung verliert alles seine Unbedingtheit. Nach der Übung des Perspektivenbewusstseins kann eine Übung im Perspektivenwechsel sehr sinnvoll sein: Man begibt sich in gedanklich und gefühlsmäßig in die Perspektive anderer Menschen und besieht sich die Welt und das Thema, worüber diskutiert wird, durch deren Brille. Das ist eine Möglichkeit, sich in Mitgefühl zu üben.
Es dürfte dann eigentlich gar nicht mehr so schwierig sein, eine festgefahrene Zweigeschlechter-Vorstellung aus Mitgefühl mit den Menschen, die unter darunter leiden, dass ihre eigene geschlechtliche Identität nicht in dieses Dichotomie passt, zu öffnen und zu erweitern.
Die Goldene Regel erfordert aber auch ein verantwortungsvolles Ausleben der eigenen Sexualität. Sexueller Umgang mit Menschen oder Tieren, die nicht mündig sind und/oder nicht freiwillig aus eigenem Antrieb die sexuelle Interaktion mit einem suchen, verbietet sich daher von selbst. Das gilt für den sexuellen Umgang allgemein, und speziell auch für die Art sexueller Praxis. Die Mündigkeit von Tieren müsste indes eigens erörtert werden. Ich halte es aber für sinnvoll, auch Tieren eine Würde zuzusprechen, die man, wenn man rein egoistisch und unachtsam mit ihnen umgeht, verletzen kann, was man unterlassen sollte.
Fazit: Auch wenn sich die Existenz von zwei oder mehr Geschlechtern genau so wenig eindeutig feststellen lässt, wie irgend etwas anderes, sondern von Vorannahmen und Entscheidungen abhängt, so sollte unsere Entscheidung dazu doch von der Goldenen Regel und vom Mitgefühl mit Menschen und Tieren getragen sein. In Bezug auf Menschen bedeutet das, dass wir niemandem eine Genderidentität aufzwingen dürfen, die dieser selber für sich ablehnt. Es ist einem Menschen eher zuzumuten, die Identität, die ein anderer Mensch sich gibt, zu respektieren, auch wenn man damit eingefahrene eigene Vorstellungen ändern muss, als die eigene Identität den Vorstellungen anderer Menschen anzupassen. Es ist leichter, mit einem Menschen zusammenzuleben, dessen Identitätskonstruktion mir schwer verständlich ist, als die eigene Identität so zu konstruieren, dass andere Menschen damit keine Denkprobleme haben, während man selbst darunter leidet. Diese Rücksichtnahme auf das Identitätsempfinden anderer Menschen ist damit keine Ideologie, sondern wäre, wenn sie Allgemeingut würde, ein Paradigmenwechsel im zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Es ist letztlich weniger eine Entscheidung der Ontologie als der Epistemologie und der Ethik.
(Diesen Essay schrieb ich am 28.5./3./11./18.6.2015 jeweils auf der Zugfahrt von Siegburg nach Bielefeld und versah ihn am 25.6.2014 abends in meiner Bielefelder Unterkunft mit den paar Fußnoten bzw. Endnoten.)
(1) Z.B. LGBT*I, Genderqueere, Neutrois, Androgyne, Genderfluide/Bigender, Transidente, Drags, Crossdresser*innen und Transvestit*innen, wie ich von einer*m Studierenden am 25..6.2014 gelernt habe.
(2) Vgl. zuletzt Michael A. Schmiedel. Emanzipation – ein vergessenes Wort? Auf MIGRApolis-Deutschland:
http://www.migrapolis-deutschland.de/index.php?id=2061; Wo sich Links zur früheren Texten finden und vgl. das Portal
www.rockmode.de, auf dem ich meine Beiträge mit MAS signiere. (Beides geöffnet am 25.6.2014.)
(3) Vgl. Michael A. Schmiedel. Der Dialog der Konstrukteure. Überlegungen über die Möglichkeit einer konstruktivistischen Metaperspektive für den interreligiösen Dialog. In: Jürgen Court, Michael Klöcker (Hgg.). Wege und Welten der Religionen. Forschungen und Vermittlungen. Festschrift für Udo Tworuschka. Frankfurt am Main (Otto Lembeck) 2009, S. 523-532. Online:
http://books.google.de/books?id=wjtWcUGEfwUC&pg=PA523&dq=Der+Dialog+der+Konstrukteure&hl=de&sa=X&ei=fRqrU9SsPIbT7AbiwYGAAQ&ved=0CEwQ6AEwBQ#v=onepage&q=Der%20Dialog%20der%20Konstrukteure&f=false (geöffnet am 25.6.2014). Und vgl. Michael A. Schmiedel. Persönliche Religiöse Konstruktsysteme und religiöse Lehren. Zur Passung individueller Entwürfe und religiöser Angebote am Beispiel selbstgewählter Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften. Münster (LIT) 2014. Online-Leseprobe:
http://books.google.de/books?id=gKjtAgAAQBAJ&pg=PP1&dq=Pers%C3%B6nliche+religi%C3%B6se+Konstruktsysteme+und+religi%C3%B6se+Lehren&hl=de&sa=X&ei=FxurU8vJDOew7Abi34CwCw&ved=0CC8Q6AEwAA#v=onepage&q=Pers%C3%B6nliche%20religi%C3%B6se%20Konstruktsysteme%20und%20religi%C3%B6se%20Lehren&f=false (geöffnet am 25.6.2014). Dort gibt es jeweils auch weitere Literaturangaben zum Konstruktivismus.
(4) Vgl. das gleichnamige Standardwerk des sozialen Konstruktivismus: Peter L. Berger u. Thomas Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Übers. v. Monika Plessner. Frankfurt a.M. (Fischer) 1980.