Autor Thema: Rockerfahrungen von einem College in Taiwan  (Gelesen 3053 mal)

Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Rockerfahrungen von einem College in Taiwan
« am: 24.06.2016 08:41 »
Ich möchte hier ein paar Episoden aus Taiwan erzählen, die mich  mit dem Rock in Berührung gebracht haben. Beginnen möchte ich mit einer Art Essay, dem dann Erfahrungsberichte aus unserer katholischen Lehranstalt in weiteren Beiträgen an dieser Stelle folgen werden.

Eigentlich sollte es eine der Fragen sein, die die Welt nur am Rande interessiert. Was ziehe ich an? Das ist doch nur mir wichtig für das ganz persönliche Wohl-gefühl und vielleicht noch für meine Freundin. Tatsäch¬lich sind aber Schüler schon von Schulen verwiesen worden und wurde Arbeitnehmern gekündigt, wenn sie mit den allgemeinen Bekleidungsgewohnheiten bra¬chen. Dabei gibt es bei uns für Privatpersonen keine vorgeschriebene, geschlechtsspezifische Kleiderord¬nung. Wir sind frei in unserer Kleiderwahl. Für alle gilt Bekleidungsfreiheit. Warum nimmt dann die Öffent¬lichkeit Anteil daran, was wir anziehen?
 
Am Anfang war der Rock. Er hat über Jahrtausende unsere Modegeschichte bestimmt. In jeder alten Kultur wurde er getragen. Es hat sehr lange gebraucht, über-haupt die Hose zu erfinden. Bis dahin hatten die Männer kein Problem damit, ein Patriarchat im Rock zu etablieren. Trotzdem ist der Rock heute überwiegend weiblich und trennt die Geschlechter. Wie geht so etwas? Muss das so sein? Ist das ein Fortschritt? Feiern wir nicht gerade als moderne Menschen unsere Freiheit und Gleichheit? Hat sich das Verhältnis zwischen Frauen und Männern nicht auch deswegen verbessert, weil wir unsere Gemeinsamkeiten immer mehr entdecken? Wieso schränken wir uns dann durch die Bekleidung weiterhin ein?

Viele Dinge, und die Kleiderwahl gehört dazu, werden uns als weiblich oder männlich präsentiert, obwohl sie im intrinsischen Sinne nichts mit einer Geschlecht-lichkeit zu tun haben. Ihr Status kommt durch sozio-kulturelle Vereinbarungen zustande. Sie repräsen¬tieren das Empfinden der Bevölkerungsmehrheit einer Epoche. Im Laufe der Geschichte kann das Volksem¬pfinden sehr variieren.
Solche Konventionen engen unsere Freiheit ein. Die Freiheitsberaubung geht dort besonders weit, wo ein enges Rollenverständnis von den Geschlechtern ver-langt wird und Zuwiderhandlungen zu sozialer Ächtung führen. Da solche Regeln fast immer ohne Bezug zu biologischen Notwendigkeiten stehen, könnten wir sehr gut ohne diesen Ballast leben. Es wäre eine Befreiung von unnötiger Sexualisierung, vergleichbar dem Kampf der Frauen, Hosen tragen zu dürfen.
Heute kann man es kaum glauben, dafür ist es viel zu selbstverständlich geworden, aber die Forderung nach Frauenhosen musste gegen massiven Widerstand über Jahrzehnte langwierig erstritten werden. Heute tragen sogar katholische Ordensfrauen Hosen. Das hätte in den sechziger Jahren kein Priester geduldet.
Warum setzte sich im antiken Rom die Hose für Männer erst sehr spät und nach erheblichen Wider-ständen durch? Warum gilt eben nicht das Prinzip Jacke wie Hose oder in diesem Fall Rock wie Hose? Während des größten Teils unserer Kulturgeschichte haben Frauen und Männer gemeinsam Röcke und Kleider getragen. Warum sind sie heute zum Privileg der Frauen und zum Tabu für Männer geworden?
Auch logische Argumente zum Thema Rock für Frauen und Männer will man oft nicht hören, obwohl Röcke im Sommer sehr bequem sein können. Durchge¬schwitzte Hosen kleben an den Beinen. Das Gleiche habe ich im Rock nie erlebt. Eine öffentliche Diskus¬sion hierüber gibt es entweder nicht oder sie schwenkt gleich emotional weiter, um leidenschaftlich festzu¬stellen, dass Röcke, wider der tatsächlichen Historie, nur für Frauen gemacht sind. Der Rock zementiert heutzutage Geschlechtszugehörigkeit, die Hose auf den ersten Blick nicht mehr.
Heute dürfen Frauen Röcke und Hosen tragen, Männer aber nur noch bestimmte Hosen. Kritisch sind alle Hosen für Männer, die zu weit geschnitten sind, einen zu tiefen Schritt haben oder sehr bunt oder gar blumig gemustert sind. Die Hose ist nicht mehr ein Zeichen für Männlichkeit. Frauen fühlen sich in Jeans absolut weiblich. Männer, die glauben, dass umgekehrt das Gleiche für sie gilt, wenn sie z.B. den H&M-Rock aus der MenTrend Kollektion von 2010 tragen, irren. Sie fallen auf, werden behelligt und manchmal belästigt. In den Augen vieler Unwissender sind sie entweder schwul oder im falschen Geschlecht. Aber waren Roms Legionen, die ein Imperium in Kriegen brutal erschufen, ein Haufen berockter Schwuchteln?
Bekleidung ist immer kultureller Ausdruck von Zeitgeist. Sie ist das Werk gesellschaftlicher Regeln und Normen. Die sind extrem wandelbar. Es gibt keinen biologischen Zusammenhang zwischen Beklei-dung und Geschlechtsidentität oder sexueller Orientier¬ung, der wissenschaftlich belastbar ist. Jede Männer¬kleidung kann heute von Frauen getragen werden. Das hat die Frauen nicht verändert. Und auch meine freiere Auslegung der Geschlechterrollen hat mich weder als Familienvater noch in meiner Beziehung zu meiner Frau verändert. Ich ziehe lediglich an, was ich als bequem empfinde und meinem individuellen Ge¬schmack entspricht. Was macht meine Kleiderwahl für die Gesellschaft so wichtig? Warum ist es für andere, die nicht mal meinen Namen kennen, so bedeutend, was ich anziehe? Wenn ich aus aktuellen Geschlechter¬rollen ausbreche, weil sie mich als Mensch und Individuum einschränken, kommt es zu irritierten Reaktionen und teilweise verrückten Unterstellungen, die mit wenig Wissen aber um so größerer Überzeu¬gung vertreten werden.
Geschlechterrollen beruhen ganz überwiegend auf Konventionen, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert und zwischendurch auch schon mal ins Gegenteil verkehrt haben. Macht sie das nicht willkürlich? Warum folgen wir ihnen?

Als ich einen Rock anzog, weil ich meiner Schulklasse versprochen hatte, mich zum Karneval in der Schuluni-form der Mädchen zu verkleiden, hatte ich Bauch-schmerzen. Mein Bauchgefühl schrie geradezu: ‚Mach das bloß nicht.‘ Nur mit Mühe konnte sich mein Verstand durchsetzen. Ich hatte zugesagt und man hält doch sein Wort. Woher kam dies Bedürfnis, in voraus-eilendem Gehorsam nicht mit einer Gesellschaftsregel zu brechen, die absolut unverbindlich ist?
Unser evolutionäres Erbe als Rudeltier lebt in uns. Unsere Instinkte begrüßen gruppenkonformes Verhalten. Wir sind unter Umständen mit unserem Verhalten für das Bestehen vieler Konventionen mitverantwortlich. Wenn wir die Gesellschaft weiterentwickeln wollen, müssen wir uns diesen Instinkten und Prägungen stellen, indem wir ihre Gültigkeit hinterfragen.
Es ist bemerkenswert, wie ein Kleidungsstück zur falschen Zeit, am falschen Ort, am falschen Körper für Aufregung sorgt. Von wegen, der Rock ist nur Aus-druck des persönlichen Geschmacks. In Abwandlung eines Zitats aus dem Gedicht Sacred Emily von Gertrude Stein muss ich feststellen: Ein Rock ist kein Rock ist kein Rock.
Ich will wissen, wie frei wir in unseren Entschei-dungen dort sind, wo wir durch die Gesellschaft so geprägt werden, dass ein gesellschaftskonformer Ver-haltensdruck entsteht. Wenn mir schon, trotz logischer Argumente, die Entscheidung für Rock oder Hose schwerfällt, wie sieht es dann mit den großen, gesell-schaftspolitischen Entscheidungen aus, die beizeiten über Krieg und Frieden entscheiden? Wenn wir schon bei kleinen Herausforderungen ins Schwitzen kommen, können wir dann trotzdem Großes bewegen? Wie unabhängig und frei bin ich in meinen Entscheidungen? Wie viele Deutsche haben in den dreißiger Jahren Schlimmes heraufziehen sehen, aber geschwiegen, weil es ihrer Prägung zu gesellschaftskonformen Verhalten widersprach? War die vielleicht selbstverschuldete Unfreiheit der schweigenden Mehrheit das größte Übel?

Die Frage: ‚Rock oder Hose?‘, ist mir zu allererst eine Frage des persönlichen Geschmacks und der Bequem-lichkeit. Bei sommerlichen Temperaturen ist ein weit-geschnittener Rock komfortabler als jede Hose. Aber als Mann muss ich mich bei der Entscheidung Rock statt Hose ganz im Gegensatz zu Frauen rechtfertigen. Praktische Vorteile werden nicht so einfach akzeptiert. Der Rock für Männer ist heute ein Politikum. Ich behaupte: Männer müssen genauso wenig eine Frau werden um Rock zu tragen, wie Frauen nicht Männer werden mussten, um das Recht auf Hosen durchzu-setzen.

Offline Dr.Heizer

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.772
  • Geschlecht: Männlich
Re: Rockerfahrungen von einem College in Taiwan
« Antwort #1 am: 24.06.2016 22:27 »
Eine sehr gute und ausführliche Betrachtung des Themas, Holger. Vielen Dank, dass Du uns an Deinen Gedanken teilhaben lässt.  :)

Ich denke, wenn man sich ein Stück weit vom Mainstrem oder dem Gedanken, immer zur Masse dazugehören zu müssen, löst, beginnt ein freieres, selbstbestimmteres und auch schöneres Leben. Leichter wird es jedoch nicht sein, was viele wieder in de Bequemzone "Mainstream" zurückfallen lässt.
Wer aufgibt, ist ein Anfänger, der um eine Erfahrung reicher wurde. Wer es nicht probiert, bleibt ein Verlierer oder auch nur Mitläufer im Mainstream. Nur richtig charakterstarke Typen ziehen ihr Ding durch und werden dabei akzeptiert. Für diese hat es sich meist gelohnt.
Ich mag Röcke und trage welche. Damit bin ich eben ein ganz normaler Kerl, der nicht dem Mainstream entspricht und einfach mal sein Ding macht! ;)
Viele Grüße aus dem Vogtland, Dr.Heizer

Offline MAS

  • Für ein großherziges Forum ohne Ausgrenzung!
  • Legende
  • ******
  • Beiträge: 25.766
  • Geschlecht: Männlich
  • Toleranz ist gut, Respekt ist besser!
    • IFN
  • Pronomen: Unwichtig
Re: Rockerfahrungen von einem College in Taiwan
« Antwort #2 am: 25.06.2016 00:08 »
Lieber Holger,

so ähnlich habe ich es auch schon geschrieben.

Allein, die biologische Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit als Argument halte ich für nicht stichhalltig, denn vieles in der menschlichen Kultur ist ohne biologische Notwendigkeit und trotzdem sinnvoll. Ich würde lieber kulturell argumentieren, was Du ja außerdem auch tust, z.B. mit den vielen Kuturen, in denen Männer traditionell Röcke tragen, oder auch Kleider.

Das meint
Der Michel
Wer das Leben ernst nimmt, muss auch über sich lachen können.

ACHTUNG! Ich verbiete ausdrücklich, Texte oder Bilder, die ich hier einstelle, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis auf andere Seiten zu kopieren!

Online GregorM

  • Legende
  • ******
  • Beiträge: 8.032
  • Geschlecht: Männlich
    • Wie wär's mit einem Kilt?
  • Pronomen: Er
Re: Rockerfahrungen von einem College in Taiwan
« Antwort #3 am: 25.06.2016 22:39 »
Hallo Holger,

vielen Dank für deinen ausführlichen Bericht, der so viele gute Aspekte hat. Für mich natürlich auch erfreulich, dass viele deiner Argumente die gleichen sind, die ich jahrelang gepredigt habe, obwohl mein Absprung der Kilt ist (als Rock getragen):

http://dress2kilt.eu/index_de.htm


Gruß
Gregor
Gruß
Gregor


 

SMF 2.0.19 | SMF © 2020, Simple Machines | Bedingungen und Regeln

go up