Lieber Holger,
auf der einen Seite sind Menschen, die traditionelle Rollenzuschreibungen loswerden wollen und auf der anderen Seite Menschen, denen diese Traditonen Halt und Orientierung geben. Man könnte nun sagen, es solle doch jeder so leben, wie er will, sei es völlig frei von Traditionen, sei es traditionsgebunden oder - wie wohl die meisten - irgendwo dazwischen. Das Problem ist aber, dass man ja gemeinsam Gesellschaft gestalten sollte und nicht gegeneinander oder aneinander vorbei. Die Liberalen, denen Traditionsanbindung unwichtig ist, werden den Traditionalisten leicht zugestehen, ihr Leben so zu leben, wie sie es möchten. Denn zur Freiheit gehört ja auch die Freiheit, sich für eine Traditionsanbindung zu entscheiden. Umgekehrt aber die Traditionalisiten haben vielleicht eher Schwierigkeiten, sich selbt an die Tradition zu binden, anderen aber zuzugestehen, das nicht zu tun.
Also ich versuche einen Mittelweg, die goldene Mitte sozusagen. Man darf Menschen nicht einfach so herausreißen. Zumal Traditionen Menschen auch schützen vor der Verfügungsgewalt der Wirtschaft zum Beispiel. Die ist ja sehr gewaltig und hätte am liebsten völlige Flexibilität der Arbeitskräfte, ungebunden an Familie, Heimat, Gemeinschaft usw. Der Zug ist allerdings schon abgefahren, denn sie hat ihr Ziel vielfach schon erreicht. Wo Menschen sich für diese Verwurzelung entscheiden und nicht einfach mal umziehen wollen, wenn sich der Arbeitsmarkt ändert, sondern Wert auf traditionelle Wurzeln legen, auf den Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft usw., haben sie oft Nachteile. Denn die traditionellen Gemeinschaften sind nicht mehr so stark, alle aufzufangen und zu stützen.
Was das Geschlechtliche angeht: Es ist auch irgendwie mehr als nur Fortpflanzung und Paarung. Ich stelle mir es auch vor, wir könnten was Gender angeht völlig frei sein, ohne dass die Gemeinschaft darunter leidet. Ich weiß aber nicht, ob die Menschen mehrheitlich reif dafür sind.
Man darf sich ja auch die traditionellen Gemeinschaften nicht so ideal vorstellen. Auch da gibt es Machtkämpfe, Kontrolle, Unterdrückung, Zwangsanpassung usw. Also auch da wünsche ich mir einen Mittelweg.
Ich sehe jedenfalls, dass das Geschlechtliche immer wieder in zentrales Thema bei Traditionalisten ist. Man schaue auf die aktuellen Diskussion beim synodalen Weg in der Röm.-Kath. Kirche. Man schaue auf die strenge Trennung der Geschlechter im orthodoxen Judentum und im traditionellen, aber auch im islamistischen Islam. Ich frage, warum das denn so ist. Sex ist wohl eine so große Macht, dass man meint, ihn unter strenger Kontrolle halten zu müssen. Andererseits wird seine Macht dadurch noch größer. Ich sehe das bei strengen Muslimen, die z.B. in der Kleidung keinerlei Überschneidung zulassen. Da wird durch diese strenge Unterscheidung alles sexuell aufgeladen und dadrurch eigentlich das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen will oder erreichen zu wollen vorgibt.
Da wünsche ich mir mehr Liberalität. Liberale Christen, Juden und Muslime haben da viel weniger Probleme mit. Aber bei ihnen ist auch der Gemeinschaftszusammenhalt geringer.
Wie kann man es also schaffen, dem Einzelnen viel Freiheit der Selbstbestimmung zu geben und zugleich den Zusammenhalt der Gemeinschaft und Gesellschaft zu gewährleisten?
LG, Micha
PS: Sollte ich jetzt das Threadthema zu weit ausgedehnt haben, bitte ich um Verzeihung.