Ich urteile nicht so schnell.
Sicher?
Ich glaube, es fällt uns allen schwer, nicht zu urteilen.
Wenn wir unter fremden Menschen sind, sind wir doch ständig am urteilen. Wir scannen doch ganz automatisch, auch schon vorbewusst, in jedem Moment die Vorgänge und Menschen um uns herum. - Wenn wir in Gedanken sind oder telefonieren oder uns mit Knopf im Ohr uns unserer Realität ein Stück entziehen, dann teilen wir die Aufmerksamkeit zwar zwischen dem Fokus auf unser Innen und der Aufmerksamkeit auf unser Aussen. Dennoch scannen ständig wir mit geteilter oder ungeteilter Aufmerksamkeit alles, was uns umgibt und müssen schnell Vorgänge, Ereignisse, Situationen und Menschen beurteilen - vor allem mit dem primären Ziel, ob das etwas mit uns zu tun hat und ob wir reagieren müssen.
So können wir zum Beispiel jemandem aus dem Weg gehen, oder alternativ jemanden zwingen, uns aus dem Weg zu gehen. So können wir jemanden bewundern, oder jemanden verachten. So können wir uns vor Gefahren schützen, auch wenn wir hochsozialisierte Wesen überwiegend einen tiefen Vertrauensvorschuss den uns begegnenden Menschen geben. Dennoch urteilen wir permanent über die vermutlichen Absichten der Menschen in unserem Nahfeld. Im Restaurant oder beim klassischen Konzert sicherlich weniger stark aufmerksam als beim Durchqueren einer Einkaufsmall.
Doch lesen wir die Absichten von Menschen aus allen für uns zugänglichen (meist nur sichtbaren) Indizien aus deren Erscheinungsbild ab. Und zack! ziehen wir irgendwelche Schubladen auf.
Zum permanenten Selbstschutz müssen wir vor allem zwischen Freund und Feind - in unserer eher gesitteten Welt dann eher zwischen Sympath und Unsympath unterscheiden. Doch um das schnell zu beurteilen brauchen wir kleinere Schubladen, zwischen denen wir entscheiden müssen. Und da kann da jedes noch so kleine Indiz den entscheidenden Ausschlag geben. Einem torkelnden Stadtstreifer werden wir anders begegnen als einer älteren Frau im Pelzmantel. Auf einen Punker mit blauen aufgesteiften Haaren werden wir anders reagieren als auf eine für uns sehr attraktiv erscheinende junge Frau. Eventuell werden wir in der Einkaufsmall versuchen, der jungen Frau einen Meter näherzukommen als eigentlich zuvor beabsichtigt, zum Punker vielleicht einen Meter mehr Abstand zu bekommen versuchen als eigentlich nötig. Oder im Restaurant schauen wir vielleicht häufiger auf beide, bei der Frau vielleicht angeregt, beim Punker vielleicht aufgeregt.
So bedienen wir permanent unsere Schubladen im Kopf.
Zuhause auf dem Sofa sind wir zwar nicht unmittelbar körperlich von einer Reaktion betroffen, wenn wir uns ein Bild von z.B. einem Femboy anschauen, dennoch laufen auch da ähnliche Beurteilungsvorgänge im Kopf ab - entweder weil wir das auf eine unmittelbare Begegnungssituation projizieren oder weil wir es als Erweiterung unseres Erfahrungsspielraums auffassen, bei der wir vorbereitet werden, dass wir mit solch einer Begegnung mal "konfrontiert" sein könnten (typischer Gedanke dazu: "Was es nicht alles gibt!").
Und alles läuft im Ende darauf hinaus zu entscheiden: Sympath oder Unsympath, betrifft mich oder betrifft mich nicht. Und: interessiert mich oder interessiert mich nicht. (Da spielt das 'Gefallen' noch nicht mal die entscheidende Rolle - das wird dann besonders im Falle des gesteigerten Interesses anfangen, eine bewusstwerdende Rolle zu spielen.)
Und dabei klappern wir kräftig mit unseren Schubladen. Um zu urteilen, um zu beurteilen.
Da geht es noch gar nicht ums Verurteilen. Ob wir jemanden verurteilen, muss bei aller Beurteilung noch keine aktive Rolle spielen. Die Verurteilung kann dann eine bewusste Entscheidung sein. Aber auch die innere Abscheu zu unterdrücken, kann eine anschließende bewusste Entscheidung sein.
Dennoch glaube ich, dass sich beim bewussten und bereits vorbewussten Beurteilen auch mögliche Vorurteile nicht völlig davon trennen lassen. Denn es wird sicherlich Schubladen geben, deren oberster Inhalt bereits mit gelb- und rot-markierten Vorurteilen gefüllt sind. Dessen bin ich mir ziemlich sicher.
Okay, Erwin, ich kann mir gut vorstellen, dass Du ziemlich wertfrei und ohne bewusste Vorurteile den fremden Menschen begegnen kannst. Und wünschenswert klingt bestimmt auch, Menschen ganz ohne Urteil begegnen zu können. Aber ganz ohne Urteil wird das aus Gründen des Selbstschutzes wohl nicht funktionieren.
Und dessen sollten wir uns alle bewusst werden. Nicht nur in uns laufen diese Prozesse ab und wir beurteilen andere.
Auch die anderen beurteilen uns. Und das, ganz gleich in welchen Schubladen wir in den anderen Köpfen landen, müssen wir aushalten können.
Können wir das nicht aushalten, dann werden wir alles tun, um uns in möglichst vielen Dingen dem durchschnittlichen Erscheinungsbild/Verhalten anzupassen (mit der Gefahr, von manchen als farblos, langweilig, unpersönlich eingestuft zu werden). Oder wir sind menschenscheue Zeitgenossen, die möglichst unsere Ruhe hinter unseren eigenen vier Wänden suchen.
Mit jedem Schritt draussen aber müssen wir mit Schubladen leben. Sie helfen uns auf unserer Weise. Sie helfen anderen auf gleicher Weise.