Hallo Collantix,
danke, dass Du das ansprichst.
Ja, wir produzieren in der Türkei, wo auch sonst. Die Türkei ist nach China der grösste Textillieferant der Welt. Die Bedingungen haben sich in den letzten Jahren sehr geändert. Zum einen bereitet sich die Türkei ernsthaft auf den EU-Beitritt vor. Kinderarbeit wurde z. B. dadurch unterbunden, in dem die Schulpflicht von 5 auf 9 Jahre verlängert wurde. Das Schulsystem entspricht dem Amerikanischen mit Volksschule, Highschool, College, Uni, wobei bereits in der Volkschule Englisch als Fremdsprache unterricht wird. Um fremdsprachlich fit zu werden, ist es üblich, für ein bis zwei Jahre im Tourismus zu arbeiten.
Umweltschutz ist ein wichtiges Thema geworden. Sicher ist noch an vielen Orten Handlungsbedarf, aber es ist sehr viel in Bewegung geraten. Die Stadt Istanbul beispielweise hatte 1993 ein sehr ehrgeiziges Projekt angegangen: Wegen des alljährlichen Wintersmogs sollte innerhalb von 5 Jahren alles auf Erdgas umgestellt werden, was bisher noch mit nasser, schlechter Braunkohle lief. Ich hielt dieses Projekt in der kurzen Zeit für diese riesige Stadt für unmöglich - in Deutschland hätte man sicher 15 Jahre gebraucht.
Nach nur 8 Jahren war auch die letzte Brennstelle umgerüstet, und das bei 12 Millionen Einwohnern (offiziell, und ca. 20 Millionen inoffiziell). Die Technologie kam aus Deutschland und Japan. Wie gut sie funktioniert, hat das verheerende Erdbeben bewiesen. Davor hatte ich am meisten Angst. Es gab keine Gasexplosionen, die Erdbebensicherungen in der Gasversorgung ist top! Im Stadtteil Avcilar, den es in Istanbul am stärksten getroffen hat, sind nur Häuser betroffen, die schlampig gebaut wurden. Die sind mittlerweile alle baupolizeilich gesperrt, zum Abriss fehlt aber das Geld. Es wurden dort auch Häuser nach den strengen deutschen Baunormen errichtet, die haben nicht mal einen Riss in der Wand.
Während man noch vor Jahren in Müllbergen an den Strassenrändern stapfte, ist es jetzt in vielen Orten so sauber, dass man sich nicht mehr traut, ein Papierchen fallen zu lassen. Damit das möglich ist, wird es auch von der türkischen Bevölkerung mitgetragen. Das Fernsehen propagiert und packt die Türken an ihrer Ehre. Und die zählt dort sehr viel. Die einzigen Volksgruppen, die das unberührt lässt, sind die Zigeuner und die Russen. Alle anderen machen mit. Und was die allseits angeprochene Kurdenunterdrückung betrifft: In kurdischen Dörfern lernen die Kinder neben der Amtssprache türkisch jetzt auch kurdisch. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, das härteste Gefängnis Diyarbakir wurde Journalisten zugänglich gemacht und wird von den Medien überwacht.
Kopftücher sind in öffentlichen Einrichtungen, wie z. B. Schulen, Unis usw. verboten, ebenso für alle Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes. In der modernen Türkei kenne ich keine unterdrückten Frauen.
Die Goldvorkommen im Südwesten werden auf Druck der Amerikaner nicht gefördert, über die riesigen Ölfelder im Nordosten gilt seit dem 2. Weltkrieg ein Schweigeabkommen. In Istanbul wird eine Interkontinental-Verbindung zwischen Europa und Asien für die Eisenbahn gebaut. Die Türkei hat mit dem Iran ein Wirtschaftsabkommen zur Aufbauhilfe getroffen. Dies schliesst auch den Tourismus mit ein. Es ist eine leistungsfähige moderne Eisenbahnlinie in den Iran in Planung. Der Güterverkehr Teheran - Istanbul - Köln spukt seit dem Siemens-Versuch Anfang dieses Jahres in den Köpfen der Wirtschaftsmächtigen.
Die Textilindustrie in der Türkei hat das Chinageschäft in den letzten Jahren deutlich zu spüren bekommen. In Istanbul arbeitet jeder 4. Türke direkt oder indirekt für die Textilindustrie. Während es früher überwiegend kleine Hinterhofklitschen waren, die als Webereien, Färbereien, Schneidereien und Nähereien oft unter unmöglichen Bedingungen gearbietet haben, hat sich jetzt eine moderne Industrie daraus entwickelt. Die vielen kleine Firmchen haben sich zu grösseren Unternehmen verschmolzen, die wiederum Interessenverbände gegründet haben. Die türkische Textilindustrie behauptet sich gegen die Chinesen, in dem sie auf Qualität setzen. Die einheimische Baumwolle wird ökologisch angebaut und ist mittlerweile eine der hochwertigsten. Sogar Trigema in Deutschland verwendet türkische Baumwolle. Textilien Made in Turkey sind ein Qualitätsmerkmal und deshalb wird es von Rumänien, Ungarn, Bulgarien und China kopiert. Gerry Weber z. B. hat eine kleine Produktionsstätte in Berlin und lässt den Grossteil seiner Waren in Istanbul fertigen. Allerdings sind mit der Qualitätsanhebung auch die Preise gestiegen. Ein Sweet-Shirt für 10-US-Cent (bei 50.000 Stück) gibt es nicht mehr.
Rici und ich haben uns für den Start der Männerröcke die ehem. Textilstadt Augsburg ausgesucht. Augsburg und Byzanz, später Konstantinopel, heute Istanbul verbindet viel. Auch, dass der ganze Textilbereich nach Istanbul abgewandert ist.
So sehr ich jetzt einigen weh tun muss, aber wir leben nicht von Luft und Liebe. Betriebswirtschaftliche Zahlen sind entscheidend, gerade jetzt. Deshalb werden Männerröcke bei uns derzeit als "Hobby" von Rici und mir geführt. Es ist ein reines Zuschuss-Projekt, von Kostendeckung oder gar Gewinnen sind wir meilenweit entfernt.
Noch ein kleiner Nachtrag zur Türkei:
Während die Gegend von Antalya ja mittlerweile jeder als Badeparadies kennt, sind die Wander- und Klettermöglichkeiten im Taurusgebirge nicht weit von Antalya noch ein absoluter Geheimtipp. Und im Nordosten um den höchsten Berg der Türkei, dem Ararat mit über 5000 m Höhe, ist ein exklusives Schigebiet entstanden mit Liften und allem, was dazu gehört. Kategorie St. Moritz und teilweise teurer. Zielgruppe: Die reichen Industrieellen (von denen es genügend gibt) und superreiche Araber. Schneegarantie länger als in den Alpen.
Dieses Bild der modernen Türkei, wie ich es immer wieder erlebe, entspricht ganz und gar nicht dem, welches in Deutschland vorherrscht. Sicher sind die Gegensätze zwischen Ost und West noch sehr extrem, aber die moderne Türkei ist auf aktuellem Stand. Etwas zeichnet die Türkei auch noch aus: Die extremen Gegensätze, denen man oft auf Schritt und Tritt begegnet, leben in friedlicher Koexistenz nebeneinander.
Ich habe es sogar schon erlebt, dass Touristengruppen die Sultan-Ahmet-Moschee (Blaue Moschee) in Instanbul in Schuhen, ohne Kopftuch, mit kurzer Hose, schulterfrei und im Minirock betreten durften. Das ging selbst mir zu weit.
Um Deine Frage direkt zu beantworten:
Rici hat noch eine kleine Musterproduktion in Italien, den Grossteil hat sie auch nach Istanbul verlagert. Wenn Du konkurrenzfähig bleiben willst, bleibt Dir keine Wahl. Deutschland verbietet sich von selbst, viel zu hohe behördliche Auflagen, oft bloss reine Schikane, viel zu langsame Behörden, dann die Gewerkschaften. Das alles kostet Geld, das niemand bezahlt.
Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Nationaler Patriotismus oder lokaler Idealismus ist nur der Politik möglich, nicht in der Wirtschaft. Keiner kauft einer deutschen Firma Ware ab, die er (über die Discounter vom Ausland) für ein zehntel des Preises haben kann. Letzendlich ist es der Verbraucher selbst, der über das Sein und Nichtsein von Produktionsstandorten entscheidet.
Viele Grüsse
Edelweiss