Leider, hirti, habe ich die Gelegenheit nicht wahrgenommen.
Und das mit dem Kompliment machen, das hätte mich doch eher zuviel Überwindung gekostet.
Gestern hatte ich ihn ja nur noch aus der Ferne gesehen.
Heute schon deutlich näher. Eigentlich saß ich Aug in Aug, so 40 Meter entfernt von ihm, wo er stand. Bestimmt eine halbe Stunde lang. Er trank irgendwas Kaffeeartiges. Ich Wein, zusammen mit einem Freund, der aber zögerlich war, als ich meinte, wir könnten ihn ja mal ansprechen.
Er stand schon da, als ich ankam. In letzter Zeit werde ich dort schon mit einem breiten Hallo begrüßt, weil die, die da hocken, immer da hocken und ich halt manchmal auch. Erst als ich saß, war mir klar, dass ich nicht der einzige Mann im Rock auf dem Platz war. Genauer gesagt: ich hatte ein Kleid an.
Ich hatte zusammen mit meinem Kumpel noch gerätselt, ob dieser Kaffeetrinker jener Mensch sein könnte, der sonst immer mit blonder, tiefsitzender Perücke herumgelaufen ist, worüber man erzählte, der würde den ganzen Tag in der Stadt rumlaufen. Ich berichtete ja auch schon mehrfach über diese wiederholten Sichtungen. (Zum Beispiel
hier)
Dass der Kaffeetrinker nicht der Perückenträger wäre, dagegen sprach z.B., dass mein Kumpel das nicht glaubte. Dagegen sprach auch, dass ich ihn von seinen Gesichtszügen mindestens 25 Jahre jünger eingeschätzt hätte als den Kaffeetrinker. Dafür sprach allerdings, dass er genauso wie der Perückenmensch jene schwarzen transparenten Nylonkniestrümpfe trug - wie gestern - wie Perückenmensch oft, den ich aber wie gesagt schon lange nicht mehr gesehen habe.
Also, was trug der Kaffeetrinker: Um es nicht wertfrei zu sagen: einen sehr eigenwilligen Stil, "gewagt" meinte mein Kumpel. Ein armloses quietschrotes Top, an dem irgendein seitliches Schultertuch mit Stars and Stripes flatterte. Ein schwarzer Leder- oder eher Kunstleder-Mini, darunter weisse Spitzen eines Petticoats rausblitzen. Knie frei. Dann die besagten schwarzen transparenten Kniesocken mit breitem schwarzem Halteband, dazu irgendwelche höherabsätzigen weißen (Lack?-) Schuhe, die aber auch die amerikanischen Farben noch irgendwie aufwiesen, genau konnte ich das aus der Entfernung nicht erkennen.
Am Nachbartisch löste sich die Runde auf, eine ältere Dame blieb übrig und setzte sich fix zu uns. Es stellte sich sodann heraus, dass es Monika war. Und Monika sagte, dass der Herr Kaffeetrinker in der Tat der Perückenmensch sei, nur halt neuerdings ohne Perücke - stattdessen Glatzkopf und ich bilde mir ein, seitlich noch ein paar weiße Resthaare. Ja, und die Brille war mir neu an ihm.
Der Kaffewagenbetreiber kam dann noch kurz zu uns und tauschten, während der Kaffeetrinker noch da stand, uns kurz über ihn aus: "Ja, er scheint sich wohlzufühlen", und das sei die Hauptsache, meinte Monika, und mir ginge es ja wohl nicht anders. Auch sie kannte mich bereits vom Straßenbild.
Lieber Hirti, ich habe nicht mit ihm gesprochen. Drum kann ich allenfalls nur spekulieren. Vielleicht ist er mittlerweile so selbstsicher geworden, dass er sich nicht mehr unter der Perücke zu verstecken braucht. Er braucht vielleicht nicht mehr unter jener Femininitäts-Tarnkappe zu verschwinden, weil er entdeckt hat, dass er einfach zu seiner Männlichkeit stehen kann.
Jedenfalls war da noch mehr los in dieser Stunde auf diesem Platz in der Stadt.
Mit auf dem Platz ein Mann, den ich schon einmal hier erwähnt hatte. Er sitzt da immer um diese Zeit auf dem Platz am Brunnen. Meistens hat er knappe Höschen an, heute auch. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er einen armygefleckten Kilt, den er aber nur sehr selten trägt.
Mit auf dem Platz auch noch ein weiterer Mann, der bisweilen mal gerne Rock trägt und sich auch schon selbst welche genäht hat.
Auf einem Male zog dann noch ein mittelalter Mann, so knappe 40, ich glaube ein '
Penner' Berber (um es soziogerecht in der Eigenbenennung dieser Menschengruppe auszudrücken) über den Platz. Mit einem langen, im Grundton braunen, gemusterten weiten Rock. Böhmischer Stil, Boho-Style, wir Deutschen sagen dazu Hippie-Rock. Es könnte der 'Berber' gewesen sein, der in letzter Zeit im Rock auf einer Hauptfußgängerachse sitzt und mich manchmal freudig von weitem schon begrüßt.
Und keine zwei Minuten später ein Herr in schwarzem Kilt, den wir beide aber bereits kannten. Ich bin erst vor zwei, drei Tagen seiner Frau über den Weg gelaufen und hatte kurze Nettigkeiten ausgetauscht. Wenige Minuten später lief er den Weg wieder zurück, also erneut über den Platz.
Wer weiß, wieviel Männer sonst alles auf diesem Platz waren, von denen wir nicht wissen, dass sie manchmal Röcke tragen. In meiner Zählung komme ich auf 6 (potentielle) männliche Rockträger, und für die normale Bevölkerung waren davon 4 sichtbar, denn wir 4 haben alle Rock bzw. Kleid getragen.
Zurück zum Kaffeetrinker. In seinen Perückenzeiten konnte man fast die Uhr danach stellen, wann er über diesen Platz lief. Jetzt hielt er sich mindestens 30, 40 Minuten auf diesem Platz auf. Vielleicht muss er ja nicht mehr auf der Flucht vor sich selbst sein. Und ohne Perücke nehme ich ihn auch nicht mehr als Crossdresser wahr, sondern als Mann im Rock (oder Kleid). Zwar trinke ich keinen Kaffee, aber vielleicht ergibt sich ja trotzdem irgendwann mal die Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Heute jedenfalls strahlte er mehr Gemütlichkeit aus. Vielleicht wird es ja auch irgendwann mal was mit der Geselligkeit - und mit meiner Überwindung!