Lieber Zwurg,
ja, sicher, man kann sich auch - oder eher gerade - bei gleichen Interessengebieten in die Haare kriegen. Das bezweifele ich keineswegs. Was ich aber meine ist, ob man nicht zwischen Themen unterscheiden kann, die eher ein Privatinteresse und solchen, die ein Gemeininteresse beanspruchen. Wenn sich einerseits zwei darüber streiten, was man alles als mittelalterliche Gewandung zulässt und was nicht oder ob der Ball nun über der Linie im Tor war oder vorher abgeprallt ist oder ob sich andererseits zwei darüber streiten, ob Männer, Frauen und Diverse gleichberechtigt sein sollen oder nicht oder ob man wegen des Umweltschutzes den ÖPNV fördern oder wegen der persönlichen Freiheit doch lieber den Individualverkehrt, sind meines Erachtens doch zwei verschiedene Hierachiestufen der allgemeinen Wichtigkeit. Oder nicht?
Für mich ist die Frage, ob wir Männer in Röcken genau so respektiert werden sollen wie in Hosen, eher eine Frage der zweiten Kategorie, also eine der Gender- oder Geschlechtergerechtigkeit und damit von öffentlichem Belang.
Und klar, muss ich keinen englischen Begriff verwenden, sondern kann es auch mit einem deutschen ausdrücken, was ich sagen will, also "Geschlechterrollen", statt "Genderrollen" oder eben "Geschlechtergerechtigkeit", statt "Gendergerechtigkeit". Nur muss ich dann immer sagen, dass ich den soziologischen und nicht den biologischen Geschlechtsbegriff meine. Ansonsten ist es eine Frage der Mode, welches Wort ich verwende. So sagen viele z.B. auch "Narrativ", während andere lieber "Erzählung" sagen. Oder bei CD-Rezensionen bin ich dazu übergegangen, statt "Booklet" "Büchlein" zu schreiben, bis mein Redakteuer meinte, ich solle dann lieber "Beiheft" schreiben. Das geht alles und ist m.E. Geschmacks- und Modefrage. Da sollte man keine Ideologie draus machen.
Was jetzt aber die Frage von Abweichung und Normalfall betrifft, denke ich doch, dass auch die Menschen der Mehrheit - also, um ein englisches Wort zu verwenden, das oft auch abwertend verwendet wird, der Mainstream - sich bewusst sein sollten, dass alleine die Zugehörigkeit zu einer mengenmäßigen Mehrheit nicht bedeutet, einer mengenmäßigen Minderheit den Respekt zu verweigern, sie so zu behandeln, wie sie behandelt werden möchte, z.B. was Pronomen angeht. Da muss man halt aushandeln, wie man es möglichst allen recht machen kann. Das heißt auch bei Wahlen und Abstimmungen sollte jede:r nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen anderer berücksichtigen (respektieren, um es lateinisch-deutsch auszudrücken). Das heißt also auch, dass eine Mehrheit berücksichtigen sollte, dass sie eben nur eine Mehrheit aber nicht das Ganze ist und sich mal in die Lage hineindenken soll, wie sie es, wäre sie in der Minderheit, sich von der Mehrheit wünschen würde, behandelt zu werden. Das wäre dann die Anwendung der Goldenen Regel.
Siehst Du es anders? Oder sonst jemand hier?
LG, Micha
PS: Mit Dir, lieber Zwurg, macht es Freude zu diskutieren, da Du konstruktiv argumentierst, Subjektivitäten zugibst und mich als Gesprächspartner und nicht als -gegner siehst, mit dem Du um gute Lösungen ringst So nehme ich es jedenfalls wahr.