Lieber Harry,
vor vier Stunden war ich noch in Bielefeld, jetzt sitze ich in Siegburg. Die Gedanken, die mich daran erinnern, dass ich kürzlich noch woanders war als jetzt, sind auch jetzt hier. Mein Gehirn hat vor vier Stunden Bilder von Bielefeld abgespeichert, die ich jetzt abrufe, und schon sehe ich den Bielefelder Hbf. vor meinen geistigen Augen, ohne dass dewegen eine Zeitreise notwendig wäre. Ich mache ja auch keine Zeitreise, wenn ich einen Film sehe, der irgendwann in der Vergangenheit gedreht wurde.
Früher habe ich mir das mal so vorgestellt, dass ich, wenn ich ein Buch lese, dass über die Antarktisexpeditionen von Amundsen und Scott erzählte, dass ich dann dabei sei. Klar, in der Phantasie, aber das ist dann eben eine Phantasie- oder Phantásien-Reise und keine Zeitreise.
Und auch wenn Zeitreisen möglich wären, wären sie nicht raumzeitlos, sondern eben nur Reisen in der Zeit, genau so wie Raumreisen nicht raumzeitlos sind, sondern eben nur Reisen im Raum.
Raumzeitlosigkeit können wir uns oder zumindest kann ich mir gar nicht vorstellen. So weit reicht meine Phantasie leider nicht.
Prallen jetzt hier unterschiedliche Weltbildparadigmen aufeinander? Ich finde das spannend. Das erinnert mich an eine Passage aus der Erzählung, "Antes Mission", die ich mal geschrieben habe:
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„Ich sehe, daß ihr müde seid und steif von dem Ritt in der Nacht, kommt mit mir, ich weiß etwas, das das Leben in eure müden Glieder zurück bringen wird.“
Lorn'asti ging voraus, auf die kleine Hütte am Bach zu, und die Brüder folgten ihm.
Wallu hatte auch schon Freundschaft mit den Hunden des Dorfes geschlossen. Besonders eine hellbraune, ebenfalls schlappohrige Hündin hatte es ihm angetan. Die beiden tollten ausgelas-sen zwischen den Hütten herum und versuchten einander zu erhaschen.
Lorn'asti gebot Ante und Peer, sich auszuziehen und in die Hütte zu gehen. Der Eingang war niedrig und mit einer Decke verhängt. Die Brüder mußten sich tief bücken, um hineinzukom-men. Drinnen saß, ebenfalls nackt, Lorn'naro. Nachdem die beiden sich gesetzt hatten, er-schien auch Lorn'asti in der Hütte, mit einem Stein, der noch vorhin in der Glut des Feuers ge-legen hatte. Er legte ihn in die Mitte der Hütte. Er brachte noch vier weitere heiße Steine und legte einen an die Nordwand, einen an die Südwand, einen nach Westen, dem Eingang ge-genüber und den letzten neben den Eingang, der sich im Osten befand. Sodann brachte er ei-nen Eimer mit Wasser aus dem Bach und setzte sich, nachdem er sich ebenfalls ausgezogen hatte, zu den dreien.
Die Steine verbreiteten eine angenehme Wärme. Als Lorn’asti dann über den Stein, der in der Mitte lag eine Schöpfkelle voll Wasser goß, welches zischend verdampfte, wurde es sehr heiß in der Hütte.
,He“, rief Peer, ,das ist ja eine Sauna!“
,Ihr kennt die Schwitzhütte? Kor Almussen hat mir nie gesagt, daß ihr auf Maman auch wel-che habt“, sagte Lorn'naro erstaunt.
,Auf Maman gibt es das nicht, aber auf Suompaiaa. Sie sehen nur etwas anders aus, denn sie haben einen Ofen in sich, auf dem viele heiße Steine liegen.“
,Wird es dann nicht rauchig in der Hütte, wenn das Feuer in ihr brennt?“, sagte der Schamane.
,Nein, entweder hat der Ofen ein Rohr, durch den der Rauch nach draußen kommt, oder er ist elektrisch betrieben. So einen habe ich auch in meinem Raumschiff erklärte Peer.
,Ja, ja ihr Raumfahrer, ihr habt sehr viel technischen Krimskrams. Auch unser Volk hatte einst sehr viel Technik, bevor es sich auf Skoréja zurückzog. Wir haben die komplizierte Technik aufgegeben, dafür aber etwas viel wichtigeres bekommen.“
,Was denn?“, fragte Peer.
,Weißt du, warum die Steine so angeordnet sind?“ entgegnete der Schamane,
,Ja“ damit sich die Wärme besser verteilt“, antwortete Peer.
,Ich dachte mir, daß du diese Antwort geben würdest. Zwar verteilt sich die Wärme so besser, aber das ist nicht der Hauptgrund. Asti, erkläre du es ihnen!“
Lorn'asti hatte wieder Wasser auf einen der Steine gegossen.
,Die Steine sind das Universum. Von den Steinen in den vier Richtungen, die die Ausmaße des Universums zeigen, gehen Linien zu dem in der Mitte. Von dem Stein in der Mitte geht eine Linie in die Erde und eine in den Himmel, also eine hinein in den Planeten und eine hin-aus. All diese Linien sind unendlich, und in der Mitte ist der Große Geist, der das Universum erschaffen hat.“
,Die Linien sind unendlich?“, erkundigte sich Ante.
,Ja, unendlich“, gab Lorn'asti zur Antwort.
,Dann“, schlußfolgerte Ante, ,kommt die, die in die Erde hineingeht auf der anderen Seite von Skoréja ja wieder heraus.
,Nein, sie geht nur hinein. Hinaus führt die, die nach oben geht.“
Ante kam damit nicht zurecht, er hielt das für unlogisch. Entweder sind die Linien unendlich, dachte er, dann führt die eine Linie durch den Planeten hindurch, oder sie bleibt in ihm ste-cken, dann ist sie aber nicht unendlich
Auch Lorn'asti hatte noch mal darüber nachgedacht und erklärte nun ausführlicher: ,Schau Ante, der Große Geist ist in der Mitte. Von ihm gehen die vier Linien aus, eine dorthin, wo die Sonne aufgeht, eine dorthin, wo die Sonne an höchsten steht, eine dorthin wo sie unter-geht und eine dorthin, wo die Sonne nie hinkommt. Die fünfte Linie führt hinaus in das Reich der Sterne, wo du herkommst, die sechste Linie hinein in das Reich der Wurzeln.
Auch die Seele der Bäume ist unendlich. Sie führt nach oben, wo sie ihre Blätter ausstrecken und nach unten, wo ihre Wurzeln sind. Aber ihre Seele geht viel weiter nach oben und nach unten, ohne daß sie unten herausguckt.“
Ante hatte aufmerksam zugehört und wußte nun, daß das Weltbild der Skor ein ganz anderes war, als das seine. Nachdem sie die Raumfahrt und damit jede Art komplizierter Technik auf-gegeben hatten, mußten sie es auch verlernt haben, über die Welt in logisch wissenschaftlicher Weise nachzudenken.
Der Schweiß rann ihnen aus allen Poren und strömte an ihren Körpern herunter. So verließen sie die Schwitzhütte, um sich im Bach abzukühlen. Das war sehr erfrischend, zumal auch die Luft noch sehr kühl war. Die Sonne war nämlich noch immer nicht zu sehen, obwohl ihre Strahlen schon seit über einer Stunde zwischen den Bergen herum tasteten.
Ante hatte noch weiter nachgedacht und glaubte nun auch zu verstehen, was Lorn'asti ge-meint hatte. Doch noch eine Frage beschäftigte ihn. Wieder in der Schwitzhütte wandte er sich nochmals an Lorn'asti:
,Du sagst, der Große Geist ist in der Mitte?“ - „Ja, von ihm geht alles aus.“
,Ist er denn nicht überall?“
,Doch er ist überall“, sagte Lorn'asti selbstverständlich, ohne den seiner Aussage innewohnen-den Widerspruch zu bemerken.
Lorn'naro und Peer hatten dem Gespräch während der ganzen Zeit zugehört,
Peer wußte nicht recht, was das alles mit seiner Frage zu tun hatte, welche Sache, die soviel wichtiger war, als komplizierte Technik, die Skor denn bekommen hatten.
Lorn'naro lächelte verständnisvoll. Er erkannte Antes Schwierigkeiten mit der ungewohnten Denkweise.
,Ante, das ist ganz einfach. Dadurch, daß der Große Geist im Zentrum aller Dinge ist, ist er überall“, erklärte er freundlich.
Dann wandte er sich an Peer: ,Und du Peer, weißt du nun welch wichtige Sache wir im Tausch gegen die komplizierte Technologie bekamen?“
Peer dachte eine Weile über das vorherige Gespräch, über die Ordnung der Steine und über den Zusammenhang zwischen beiden nach.
,Ich bin mir nicht ganz sicher, aber...“
,Ruhig Peer“, unterbrach ihn der Schamane, die Hand hebend, ,wir wollen es nicht zerreden. Wenn du erst einmal einige Zeit bei uns gelebt hast, dann wirst du dir sicher sein.“
,Sehr lange können wir leider nicht bleiben. Antes Ferien sind bald zu Ende. Eigentlich sollten wir schon längst auf dem Rückweg sein.“
Ante erschrak, als er das hörte. An die Schule er schon lange nicht mehr gedacht. Wenn er jetzt aber nachdachte und die schon verstrichenen Wochen zählte, fiel ihm auf, daß die Schule übermorgen beginnen würde und daß sie bis dahin den Rückweg nie schaffen könnten. Das wollte er gerade seinem Bruder mitteilen, als Lorn'naro wieder zu reden begann:
,Ihr dürft gar nicht fort von hier. Daß ihr hier seid, ist der Wille der Alten Meister. Das sagte ich bereits. Also scheinen sie etwas von euch zu wollen.“
„Du meinst“, entgegnete Peer, „die Alten Meister würden uns gar nicht von hier fort lassen?“
„Die Alten Meister tun niemandem Gewalt an. Wenn ihr wollt, könnt ihr Skoréja verlassen. Aber mir gegenüber würdet ihr dadurch an Gesicht verlieren. Wir Skor leben schon lange eng verbunden mit ihnen, und wir kennen ihre Weisheit. Gegen ihren Willen zu verstoßen ist so ähnlich, als verstoße man gegen die Gesetze der Natur. Zuerst merkt man gar nicht, was man angerichtet hat, doch dann, es kann schon viel Zeit vergangen sein, endet es fürchterlich.“
Die Alten Meister schienen sie also hergerufen zu haben, ohne daß sie etwas davon gemerkt hatten.
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LG, Micha