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ännern das Kleid!
ZEITMAGAZIN NR. 36/2015 6. OKTOBER 2015
Dass nur Frauen Kleider tragen dürfen, ist eine Ungerechtigkeit der Geschichte – der Mann ist der große Verlierer der Mode. Von Tillmann Prüfer
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Männer dürfen heute sehr viel – aber keine Kleider tragen. Nicht weil es gesetzlich verboten wäre. Es ist nur vollkommen unmöglich. Ein solcher Auftritt ist zumindest verstörend. Ein Mann im Kleid braucht immer einen Rahmen, der ihn akzeptabel macht. Eine Travestie-Bühne oder einen Junggesellenabschied. Ansonsten wird ein Kleid als Regelverletzung aufgefasst.
Es ist eine große Ungerechtigkeit. Doch anders als Frauen, die sich mitunter vehement dagegen wehren, dass ihnen die Gesellschaft Bekleidungsnormen aufnötigt, sehnen sich Männer nicht danach, Kleider tragen zu dürfen, warum eigentlich nicht? Kaum etwas wäre für männliche Bedürfnisse geeigneter: ein einziges Teil, das man sich überwirft – und mit dem man dann komplett angezogen ist. Männer haben das im westlichen Kulturkreis praktisch nicht. Außer vielleicht den Blaumann. Aber das macht doch niemand: morgens mal schnell in den Blaumann schlüpfen, um beim Bäcker Brötchen zu holen. Hätten Männer ein Äquivalent zum Kleid, sie würden es ausgiebig nutzen.
Aber das Kleid gehört ganz allein der Frau. Es ist assoziiert mit allem, was man an Frauen faszinierend finden kann. Kein Kleidungsstück harmoniert unmittelbarer mit dem Körper, kein Kleidungsstück präsentiert seine Trägerin besser, indem es sie verhüllt. Wenn man Mode als Sprache sehen möchte, ist das Kleid das Gedicht. Es ist frei von aller Zweckmäßigkeit, ein Kleid wärmt nicht, es schützt nicht gegen Regen, und es ist mitunter nicht einmal bequem. Ein Kleid ist eben nicht Bekleidung, es ist die pure Botschaft. Ein Kleid kann aufregend sein und beruhigend, hingebend oder distanzierend, in einem Kleid kann sich eine Frau hervorheben oder verstecken. Wenn eine Frau ihre Kleider nebeneinanderlegt, hat sie eine Galerie all ihrer Zustände und Gefühle. Der Designer Wolfgang Joop hat einmal gesagt, er finde, ein perfektes Kleid dürfe nur einen Abend halten und sollte danach auseinanderfallen. Denn nach dem Auftritt sei alles gesagt, und wiederholen sollte man sich nicht.
Mit dem Erwerb eines Kleides kann eine Frau sich selbst ein Versprechen geben. Sie kauft ein Kleid und hat damit eine Hypothek auf ihre eigene Zukunft. Vielleicht ist sie noch nicht die Frau, die sie sein möchte. Aber sie hat schon einmal das Kleid, das diese Frau tragen würde. Es heißt, ein Kleid drücke die Persönlichkeit einer Frau aus. Vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Indem man sich kleidet, bekommt man erst einen Zugang zur eigenen Persönlichkeit. Der Kauf von Kleidern, das Anprobieren und Vergleichen, ist wie ein Selbstgespräch. Deswegen ist es so aufwendig. Eine Frau muss sich dabei mit sich selbst auseinandersetzen und über sich nachdenken. Der Mann steht daneben und versteht nicht. Das ist das Schicksal des modernen Mannes. Wenn es darum geht, sich selbst zu kleiden, spielen Frauen die Klaviatur vom tiefen A bis zum fünfgestrichenen c’’’’’ – während Männer schon ganz froh sein können, wenn sie auf der Tonleiter Hänschen klein hinkriegen.
Frauen sind mehrheitlich geübt darin, in der Sprache der Kleidung zu kommunizieren. Männer sind es nicht. Es ist eine Kulturtechnik, zu der sie kaum Zugang haben. Der einzige Grund, warum Männer nicht beleidigt dagegen anmotzen, ist, dass sie gar nicht verstehen, dass sie benachteiligt sind. Sie sind einfach froh, dass sie weniger Klamotten kaufen müssen. Aber das ist in etwa so, als wenn jemand im Restaurant die Weinkarte nicht lesen kann und deswegen immer mit demselben Bier zufrieden ist.
Wie kommt es eigentlich, dass Männer keine Kleider tragen? Die Zeiten waren einmal anders. Über Jahrtausende haben Männer und Frauen dieselbe Art von Kleidung getragen. Erst seit 700 Jahren nutzen wir getrennte Garderobe. Im alten Ägypten, in der römischen Antike und auch im frühen Mittelalter trugen Frauen und Männer die gleichen Kleider. Die wichtigen Unterscheidungen in der Kleidung wurden zwischen den hohen und niedrigen Ständen gemacht. Und nicht zwischen Frauen und Männern. Die Kleidung wallte um den Körper, die Hose war chancenlos. Zwar gab es schon früh hosenähnliche Beinkleider. Diese waren vor allem dazu gedacht, besser reiten zu können. Römer und Griechen lehnten die germanische und gallische Beinmode als unzivilisiert ab. Die "barbarische Hose" galt in Rom noch Ende des 4. Jahrhunderts als derart anstößig, dass eine kaiserliche Verfügung das Hosentragen unter Strafe stellte. Noch im 16. Jahrhundert zeigte Holbeins Porträt von Heinrich VIII. den Tudor-Herrscher in einem Renaissance-Outfit, das man heute als Hemdkleid mit Leggins bezeichnen würde.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts stellte sich das Bürgertum gegen den Adel – und dies hatte auch Konsequenzen für die Kleidung. Der Stil der Aristokratie wurde als weibisch verfemt, dagegen idealisierte sich das Bürgertum als männlich. Der Mann trug auf keinen Fall mehr einen Rock. Die Frau aber wurde aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Sie hatte sich fortan um den Haushalt und die Erziehung der Kinder zu kümmern. In der bürgerlichen Gesellschaft gab es keine kulturelle Ausdrucksmöglichkeit mehr für sie. Ihr blieb die Mode. Die Art, sich aufzumachen, das Ausfeilen der Nuancen, wurde zur neuen Sprache derer, die ansonsten zur Sprachlosigkeit verdammt waren.
Heute, da sich die Möglichkeiten der Geschlechter annähern, sind Frauen darin dem männlichen Geschlecht weit voraus. Sie beherrschen die stillen Dialoge der Kleider und probieren sie in neuen gesellschaftlichen Rollen aus. Und der Mann versteht es einfach nicht.
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