ich will nicht kleinlich sein, aber ist Individualismus nicht ein Stück weit auch Egoismus (zumindest in positivem Sinn)?
Hm. Ich glaube, diesen Gedankengang hatte ich bei Micha auch bereits herausgelesen.
Falls Du mit 'Individualismus' nicht ein festgeschriebenes *ismen-gleiches Theorien-Konstrukt meinst, sondern das, was man als normaler, nicht in allen psychologischen oder soziologischen Bereichen bewanderter Durchschnittsmensch damit verbindet, dann kann ich Dir da zweifelsohne zustimmen.
Individualismus resultiert ja daraus, dass jeder Mensch, egal ob 'Herden'-Mensch oder eher am Rande der Herde stehender Mensch, dass also jeder Mensch für sich genommen zunächst mal ein Individuum ist. Und resultiert daraus, dass eben jedes Individuum auch ein kleines bisschen auf sich selbst schauen muss/müsste, um nicht im Herdentrieb irgendwann auf der Strecke zu bleiben.
Man kann also sagen, dass es - analog zu dem eher bekannten Ausdruck 'gesunder Egoismus' - es auch einen gesunden Individualismus geben können soll / geben kann / geben muss (und die letzten Worte alle noch mal im Konjunktiv).
Wann aber gilt jemand als ein Individualist (jetzt mal frei von eventuell möglichen sozialwissenschaftlichen Definitionen betrachtet, also unwissenschaftlich quasi aus der Volkes Seele betrachtet)?
Dieser Frage kann man sich vielleicht am besten annähern, wenn man das betrachtet, was dem Individualisten entgegensteht: Der 'Herdentrieb' / die 'Herde'.
Solch ein Herden-Verhalten ist an sich ja nichts schlechtes. Denn das stärkt die Gemeinschaft, denn es macht absehbarer / kalkulierbarer / sozialverträglicher, wenn man in alltäglichen Belangen einigermaßen das Verhalten eines anderen Herdentiers einschätzen kann. Der Gemeinschaft würde es zuviel Kraft kosten, wenn man nicht mit einem gewissen Grundvertrauen eines sozialverträglichen Miteinanders einander begegnen könnte. Eine durch gegenseitiges Vertrauen gestärkte Gemeinschaft ist in der Lage, die einzelnen Mitglieder besser zu schützen. Unerwartbare Geschehnisse können so besser von der Gemeinschaft bewältigt werden. Scheren zu viele Mitglieder aus dem allgemeinen Herdentrieb aus, versinkt die Gemeinschaft in Chaos und ein Grundvertrauen wandelt sich in Grundmißtrauen. Herdentrieb als solcher, die Herde ebenso, sind an sich etwas postives.
Das kann aber auch das Unbehagen einiger Herdentiere befördern, die im erwartbaren sozialverträglichen Miteinander aufgrund ihrer Individualität - wie jeder Mensch sie hat - sich bei manchen Dingen gerne anders verhalten würden. In den meisten Fällen - so sind wir geprägt - werden wir wohl sagen: "Jetzt reiß Dich mal zusammen!" Und man fügt sich gegen manche inneren Bedürfnisse in die Gemeinschaft ein, der Gemeinschaft zuliebe, dem Funktionieren der Gesellschaft zuliebe.
Wer es nicht schafft, diese konträren Bedürfnisse gegenüber anderen Vorteilen, die die Gemeinschaft bietet, abzuwägen und eben die Bedürfnisse zugunsten anderer Bedürfnisse zu unterdrücken, für den gibt es zwei Möglichkeiten: entweder er leidet - oder er beginnt, sich individuell zu verhalten (vermutlich aus dem ersten Leiden heraus oder aus Unwissenheit). Ja, von außen kann das vielleicht schon als Egoismus gelesen werden. Jedenfalls riskiert der 'Individuelle', im allgemeinen Herdentrieb anzuecken. Wer sich dafür entscheidet, wird vermutlich abgewägt haben, was für ihn das sinnvollere Verhalten ist.
Wenn man genau hinschaut, wird vermutlich jeder in bestimmten Dingen irgendwo ein 'Individueller' - oder sagen wir wieder 'Individualist' sein. Diese Aussage trifft vermutlich auch in Gesellschaften / Staaten / Religionen zu, in denen eine stringente Konformität eingefordert wird. Aber es ist wohl auch gut so, denn irgendwo muss die Kraft für die Gesellschaftsfähigkeit ja auch hergenommen werden.
Gerade in liberaleren Staaten (und Gesellschaften und Religionen) ist es möglich, individueller sich zu verhalten. Denn Sozial- und Rechtsstaaten schützen in besonderem Maße individuelles Verhalten, selbst wenn einige Individuen das nicht mehr im Zusammenhang sehen, wie sehr die Gemeinschaft sie schützt. Die Freiheit der Individualität ist hier spürbar größer als in Systemen mit restriktiveren Vorstellungen.
Wenn also jeder irgendwo Individualist ist, dann bin ich im Verhältnis mit meinem abweichenden Verhalten ja möglicherweise gar nicht so ein großer Individualist. Vielleicht ist auch
jemand ein Individualist,
der sich frei dafür entscheidet, möglichst in allem im Strom der Herde mitzutraben, 'krampfhaft' mitzutraben (aus der Sicht eines starken Individualisten). Das immer mal wieder gerne angeführte 'krampfhafte Angepasstsein', fast schon krankhaft, ist womöglich absolut nichts anderes als ein individualistisches Verhalten. Ich schweife ab...
Krankhafter Individualismus könnte dann sein, wenn dadurch die Gemeinschaft zu sehr gestört wird und sie Gefahr läuft, ihre innere Stärke einzubüßen. Krankhafter Egoismus könnte dann ebenso hiermit einhergehen, vor allem dann, wenn der Schutz der Gemeinschaft mehr ausgekostet wird, als es die Gesellschaft sich leisten kann.
Gesunder Individualismus und gesunder Egoismus sind also irgendwo da angesiedelt, ehe die obige Bedingung erfüllt ist.
Gesund ist Individualismus vor allen Dingen auch da, wo trotz Aneckens neue Wege aufgezeigt werden, denn es ist ja nicht gesagt, dass der Herdentrieb jederzeit in die noch immer richtige Richtung treibt. Eine starke Gemeinschaft kann nicht nur Individualisten ertragen, eine starke Gemeinschaft braucht auch einzelne Individualisten um auf neue Möglichkeiten hingewiesen zu werden, um sich vielleicht auch weiter zu entwickeln.
Nun klingt Weiterentwicklung oftmals positiv (ohne religiösen Kontext streng gekoppelt an den Glauben an wirtschaftliches Wachstum). Es mag Massstäbe geben, einen Entwicklungsstand zu bewerten, aber Weiterentwicklung ist nicht zwingend etwas, was per se zu einer Verbesserung entlang der Massstäbe führen muss. Weiterentwicklung ist einfach nur eine Fortentwicklung. Berge verändern auch ihre Gestalt - wenn auch viel langsamer als Menschen. Warum aber sollten sich Menschen nicht auch verändern? Fortentwicklung ist eben eine Anpassung an die Ereignisse der Zeit, ohne ein zielgerichtetes Höher, Schneller, Besser, Weiter.
Eine starke Gemeinschaft braucht also auch den Fingerzeig von Individualisten, um auch künftig noch stark zu sein. Um auch noch künftig mit den Fragen der Zeit umgehen zu können. Klar aber ist, dass nicht alle Individualisten innerhalb einer Gesellschaft die richtigen Fingerzeige geben, die für die Gesellschaft einen gangbaren Weg darstellen könnten. Es wird immer Individualisten geben, die gesellschaftlich gesehen einen irrtümlichen Weg aufzeigen. Gibt es zu viele starke Individualisten, die zu viele Fingerzeige geben, dann kann die Gesellschaft daran zerbrechen.
Es ist also immer eine gewisse Gratwanderung, gesamtgesellschaftlich betrachtet, aber auch als individueller Individualist betrachtet.
Es macht immer wieder Spaß, hier im Forum über solche Dinge nachzudenken. Oft auch mit irgendwie neuen Impulsen.
Die Neigung, darüber nachzudenken, scheinen aber immer wieder unsere Mitglieder mitzubringen. Das ist aber auch gut so, denn mit unseren doch sehr individuellen Bedürfnissen stehen wir ja im Widerstreit zwischen uns und dem Herdentrieb (der 'Gesellschaft').
Es ist tatsächlich ein besonderes (komisches? gutes? interessantes?) Gefühl, wenn man z.B. in einer Besprechung mit fünf anderen Männern sitzt, und man als einziger sich für ein Outfit entschieden hat, das keine Hose umfasst. Also als einziger unter 6 Männern in Rock oder Kleid zu sitzen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Gedanken/Gefühle können da hochkommen. Grenzt man sich als Individualist damit aus? (Gut, bei mir sind die das gewöhnt... dennoch...) Oder wird man als Individualist vielleicht gerade deswegen besonders geschätzt? Oder wird man geschätzt, obwohl man Individualist ist (ich glaube, das vielleicht am ehesten)? Oder kann ich mich gerade deswegen in die Runde mit meinen Leistungen am besten einbringen, weil ich eben mich als Individualist einbringe / einbringen darf? Gerade am letzten Punkt ist auch viel dran.
Ich glaube, gerade nicht in jedem Herdenverhalten mitzumachen, kann einen befähigen, einen optimierten Beitrag zur Herde zu erbringen. Das ist bezogen auf mein Rock-/Kleidtragen meine Überzeugung. Allzuoft war ich abgelenkt, habe ich mich unwohl gefühlt, war ich unfit, weil ich mich in der Herden-Hose bedrängt, gemaßregelt, genötig gefühlt habe. Mit Kleidung, die meinem Körper und damit meiner Seele wohl tut, kann ich mich viel aufmerksamer den Dingen hingeben, die ich zu erfüllen habe, die man von mir erwartet.
Auch so gesehen kann ein Individualismus der Gemeinschaft mehr einbringen als ein linearer Konformismus.
Und neben diesem so definierten Beitrag zur Gemeinschaft stellt sich nun auch die Frage, wo liegen die Kosten der Gemeinschaft, um meinen Individualismus zu ertragen?
Man könnte sagen, nur wegen diesem Stück unterschiedlichen Stoffs schade ich doch niemanden. Nun, das werden Partner, Verwandte, Freunde, Kollegen, Chefs von vielen hier im Forum anders sehen.
Das Auffallen, das Gegucke, das Getuschel, das Gerede, die vielleicht falschen Verdächtigungen der Leute etc., all das können Kosten sein, die den Menschen, die uns umgeben, wehtun. Wir, mit unserem abweichenden Verhalten, mit dem bisschen andersartig geschnittenen Stoffs, können sehr wohl schaden. Eben nicht direkt materiell, aber zumindest psychisch.
Drum müssen wir Individualisten, denen uns an was anderem als
diesen ewigen Hosen gelegen ist, unsere Menschen, die uns umgeben helfen, damit umgehen zu können. Gut, viele müssen erst mal noch selbst sich helfen und sind damit schon voll ausgelastet. Aber an diesem Punkt kann uns unsere Gemeinschaft auch wieder ein klein wenig helfen. Haben wir nicht den Mut, die Kraft, unser Bedürfnis zu bedienen, unseren Wunsch zu erfüllen, so - da komme ich grade eben drauf - ist es, wie ganz vieles im Leben, wichtig, dies nicht in uns hineinzufressen, sondern uns unserem Umfeld zu offenbaren.
Denn so, wie jeder Rockträger in der Öffentlichkeit in der Summe zu einer Ermöglichung des Rocks am Mann beiträgt, trägt auch jeder in die Gesellschaft getragene Gedanke über den Rock am Mann zu der Erleichterung des Rocks am Mann bei. Und wie oft liest man, dass manchmal sogar Frau, Kinder, Verwandte einem dabei unterstützen.
Ich glaube, die Gemeinschaft verliert mehr, wenn ein Mitglied in sich hineingekauert vor sich hinfunktioniert.
Ich glaube, die Gemeinschaft erntet mehr, wenn dieses Mitglied selbstbewusst seinen Platz in der Gesellschaft besetzt und mit lebensfroher Bejahung, wenn auch manchmal aneckendes Teil der Gemeinschaft ist.
Ein sehr differenziertes, aber durchaus bestärkendes Hoch auf den Individualismus!!!
Und ja, ein Gedanke noch, bitte!
Grenzen wir uns aus, wenn wir als Mann einen Rock / ein Kleid tragen? Hm. In der Besprechung unter den Männern ja, zumindest optisch.
Müssen wir wirklich als Individualisten im Rock oder Kleid durchs Leben ziehen? Mein Gedanke, den ich gerade noch habe, ist: Nein, müssen wir nicht. Denn wir sind nicht die einzigen. Diesmal rede ich nicht von uns als Forumsgemeinschaft, auch nicht von den Menschen, die wir in der Rubrik "Rocker gesichtet" erwähnen.
Ich rede von den Frauen. Die tragen auch individuell die Kleidungsvielfalt, die sie wollen. Wir Individualisten sind nicht alleine, die halbe Gesellschaft tut das schon. Und nur, weil wir Mann sind, sollen das nicht auch tun dürfen? Und nur, weil die Männer damals die Gegenoffensive verschlafen haben, als Frauen sich in Hosen gesellschaftsfähig gemacht haben? Jetzt sind wir eben dran, uns gesellschaftsfähig zu machen. Und wir bemitleiden unsere Vorväter, die das sich nicht genommen haben. Und wir bemitleiden unsere Mitmänner, die sich das nicht zugestehen. Wir sollten es aber nicht schon wieder verschlafen. Damit tun wir niemandem einen Gefallen! Auch wenn das manche erst später begreifen.