Donnerstag den 18. März 2010.
Inspiriert, glaube ich, von Christians Bericht über seine Busfahrt – die Welt in der wir leben – will ich mein Territorium so zu sagen erweitern, und ich bin vorbereitet, dass es heute Zurufe und andere negativen Reaktionen geben kann.
Der erste richtige Frühlingstag mit 13 Grad und Sonne. Dunkelgraue Kiltstrümpfe in dicken, schwarzen Schuhen. Oben ein ebenfalls dunkelgrauer Rollkragensweater. Ich lege meinen blaukarierten Kilt in Ramsay Tartan um mich und schnalle ihn mit den drei kurzen Riemen am Leib fest. Dann folgen der breite Gürtel mit der blanken, breiten Schnalle und der Sporran, beide in schwarzem Leder.
Die Farben stimmen mit einander gut überein, stelle ich fest. Dann ziehe endlich eine sandfarbenen Windjacke an und öffne die Haustür.
Ich gehe, wie ich hier und anderswo mehrmals geschrieben habe, sehr viel im Kilt und überall. Und doch nicht überall.
Um 10 Uhr 30 setze ich mich ins Auto und fahre zum nächsten Bahnhof.
Mit dem Zug geht es in die Stadtmitte und von dort aus zu Fuß durch ein Viertel, das vor dreißig-vierzig Jahren mit Arbeitern bevölkert war - und damals ganz friedlich - nun aber hauptsächlich mit Einwandern bewohnt. Also ausgeprägt ein Typ Stadtteil, wo ein Kilt vielleicht nicht so richtig ankomme. Sollte doch aber mal ausprobiert werden.
Eine große und sehr lange Straße geht quer durch dieses Bezirk. Überall kleine Läden mit Frucht und arabischen Kleidungen. Sehr viele Geschäfte, die am Sterben sind oder längst aufgegeben haben, und wo in absehbarer Zeit nicht mit Neueröffnungen zu rechnen ist. Hier herrscht Bandenkriminalität, und in den Seitenstraßen, die wahre Ghettos bilden, gibt es vor kurzem ziemlich viele Beispiele nächtlicher Schießereien.
Auf dem Gehsteig viele Personen, die alleine oder zu zweit oder zu dritt stehen oder sitzen und absolut nichts anderes zu tun haben, als das Leben, das ihnen vorbeigeht, zu beobachten. Viele davon sind Jugendliche.
Ich gehe diese, über zwei Kilometer lange Straße hindurch, und was erlebe ich? Keine Kommentare, keine verachtungsvollen Blicke, keine unterbrochenen Reden. Ich muss ihnen einfach ein Mensch sein wie jeder anderer, ein Tourist vielleicht - ich habe meine Fototasche auf dem Schulter hängen - oder ich bin ihnen bloß uninteressant oder gleichgültig.
Dann in andere und reichere Bezirksteile zu Fuß hinein.
Um zwei Uhr habe ich eine Verabredung mit einem Mann in seinem Wohnsitz. Ich habe eine Anzeige für eine alte Kamera, eine Nikon F, gesehen, und die will ich vermutlich kaufen.
Es ist jetzt zu spät erst das eigene Auto zu holen. Von dem EKZ, wo ich eine Zeit verbracht habe, nehme ich die Metro und dann die S-Bahn. Der Schottenrock weckt keine Aufsicht.
Im Zug steht mir plötzlich klar, dass ich kein Bargeld für die Kamera habe; also steige ich frühzeitig ab und befinde mich wieder im Viertel des Vormittags. Ich suche lange nach einem Geldautomaten, bevor ich einen finde. Banken gibt es angeblich auch seltener hier als in anderen Stadteile. Zwei Männer fremder Herkunft stehen hinter mir, zu nahe, viel zu nahe, fühle ich. Ich versichere mich, dass meine Kreditkarte und das Bargeld in die richtige (= meine) Tasche gehen, bevor ich mich umdrehe. Sie lachen freundlich und gestikulieren: „Schotte, Schotte?“ („Richtige“ Dänen stellen mir solche Frage nicht).
Ja, antworte ich und eile zur nächsten Bushaltestelle. Hier warten Kinder, die von der Schule auf dem Weg nach Hause sind. Viele der Mädchen schon mit bedecktem Haar. Einige Blicke, aber sonst nichts. Eine kurze Strecke mit dem Bus, dann umsteigen und zehn Minuten auf den nächsten warten und wieder unter Jugendlichen. Ich verstehe nicht, was die meisten von ihnen sagen, aber über mich handelt es bestimmt nicht.
Fast eine Stunde später als verabredet stehe ich endlich vor der Tür eines roten Reihenhauses. Ich klingele. Ein Mann Mitte oder Ende dreißig, glaube ich, öffnet die Tür, heißt mich willkommen, reicht mir die Hand und stellt sich vor. Wir gehen in die Wohnstube, wo er die Kamera hat.
Die Nikon sieht sehr gut aus, funktioniert einwandfrei und ich bezahle ihm.
„Ich sehe, du hast eine neue und viel bessere Kamera, sagt er und deutet an meine Nikon D700. Warum willst du eigentlich diese alte haben?“.
(In Dänemark sagt man seit 40 Jahren immer „du“. Auch Schüler sagen du zu ihren Lehrern und Vornamen. Anredeformen wie Herr, Frau und Fräulein sind auch total aus dem Gebrauch gekommen. Titel in Anrede auch).
Ich erzähle ihm, dass sie für meine kleine Sammlung sei, und dass ich mit ihr keine Bilder nehmen werde. Wir unterhalten uns ein bisschen darüber, und dann stehe ich wieder auf der Straße.
Keine Kommentare zum Kilt. Keine, überhaupt keine verwunderten Blicke, als er die Tür öffnete, nicht das geringste Zeichen, dass er den Kilt außergewöhnlich fand.
Dann zu Fuß zur nächsten S-Bahn-Station und zweimal Zug wechseln. Die Waggons sind voll. Die Stoßzeit hat angefangen. Damit ich so schnell von einem Bahnsteig zum nächsten kommen kann, gehe ich während der Fahrt durch sechs Wagen, damit ich ganz vorne bei der Rolltreppe aussteigen kann. Ein paar müde Blicke sind alles.
Endlich fahre ich mit dem Auto zu einem Baumarkt um einige Einkäufe zu machen. Erst um halb sechs bin ich zu Hause. Sieben Stunden im Kilt unterwegs und (nochmals) die Konklusion: Mit Vorurteilen soll man aufpassen.
Grüße
Gregor