Wenn letzteres gilt, dann halte ich es für möglich, dass im 19. Jahrhundert ein entblößtes Frauenknie die gleiche Wirkung hatte wie in der Antike ein nackter Busen. Das wäre dann ein Hinweis auf eine von mir postulierte gesellschaftliche Konstruktion - also möglicherweise ohne biologischen Bezug.
Kurz gesagt: Ja, so ist es.
Differenzierter gegesagt:
Hm Wolfgang, willst du damit sagen, dass es ein paar Jahrhunderte zurück keine erotische Wirkung von Kleidung gab? Oder nur, dass sie anders war, weil es andere moralische Maßstäbe gab.
Ja, sie (die erotische Wirkung von Kleidung) war überwiegend anders, weil es andere moralische Maßstäbe gab.
Aber sie war gleichzeitig auch geringer - vor allem in der Antike, die als Beispiel minirocktragender Männer hervorragend taugt.
Ich bezweifle, dass eine entblößte weibliche Brust in der Antike als genauso "sexy" empfunden wurde wie ein entblößtes Frauenknie vor 130 Jahren.
Um das beantworten zu können, müsste man die gesamte Erotikgeschichte aufarbeiten. Ohne auch nur einen Deut da für diesen Beitrag hier irgendwo bei Wiki oder sonst im Web recherchiert zu haben, kann ich mir aber auch vorstellen, dass da ein ganzer Haufen von Fragen aufgeworfen wird, die man nur durch tieferes Eintauchen in die Volkskunde und Gesellschaftskunde ausreichend beantworten werden kann.
Mir fallen da Begriffe ein wie "Liebe", "Verführung" oder "Vergewaltigung".
Diese Begriffe haben heute eine ganz andere Bedeutung als noch vor wenigen Jahrhunderten, geschweige denn Antike. Auch wenn wir Goethe als den triebgesteuerten Schwerenöter begreifen, der fortgesetzt von Liebe geschrieben hat, so ist sein Liebesverständnis ein anderes als unser heutiges. "Liebe" zur Zeit von Goethe war mehr noch im Sinne der "Kraft der Verführung" zu verstehen oder sehr viel enger gekoppelt an unser heutiges "Liebe machen". Das Verständnis der romantischen Liebe wurde erst in der Rezeption dieser Werke im 19. Jahrhundert zu dem geformt, was es bis heute für uns bedeutet.
Die meisten Leute hatten bis ins 18. Jahrhundert gar keine Zeit, sich der romantischen Liebe hinzugeben. Das war "Liebe", die im Sinne der "Gattentreue" zu verstehen ist, im Sinne der gemeinsamen Teambildung, um durch die Anforderungen des Lebens zu kommen. Nicht das Hingezogenfühlen bestimmte, wer wen heiratete - die Gelegenheiten machten den entscheidenden Faktor - bei den Armen wie bei den Reichen. Die Herrschenden heirateten unter ihresgleichen, da waren Zweckheiraten die Regel, nicht die Liebesheiraten.
Bis ins 18. Jahrhundert hinein war "Liebe" mehr das, was die "Kraft der Verführung" im nicht-ehelichen Kontext bedeutete. Und sich dieser Kraft hinzugeben, war längst nicht so verpönt wie heute, war quasi an der Tagesordnung.
Nun haben aber gerade die christlichen Botschaften und deren Interpreter versucht, diese Triebe unter Kontrolle zu bekommen. Was in Worten und Taten ab den Reformationsbewegungen auch immer mehr an gesellschaftlichem Gewicht - zumindest vordergründig - erhielt.
"Vergewaltigung" war bis dahin nichts sexuelles, allenfalls im auf die Spitze getriebenen Einzelfall. Das Konzept unserer heutigen "Vergewaltigung" ist die allmähliche Erfindung der "Selbstbestimmung". Selbstbestimmung war vor der französischen Revolution (und anderen Aufbegehrungen des Volkes) vollkommen fremd. Am Konzept der Selbstbestimmung wird bis in unsere Jahrzehnte hinein noch gebastelt.
Davor gab es keine Idee von sexueller Vergewaltigung. Vergewaltigung war das Habhaftwerden eines Menschen oder dessen Besitzes/Einflußbereichs, zuerst in Ausübung der Rechtsprechung, später auch mit der unrechtmässigen Aneignung desselben.
Davor war Liebe nahezu reine Verführung. Und Verführung lag im Verhalten begründet.
Verführung hat auch etwas mit Schönheit zu tun. Und auch für Schönheit hatten die Menschen vor 1800 keine wirkliche Zeit oder Möglichkeiten. Das war nur den Frauen und Töchtern der Gutsherrn oder mächtigen Kaufleute vorbehalten. Und natürlich dem Hof. In diesen Kreisen war es überhaupt möglich, "Mode zu entwickeln". Und was man von Hof und von den Reichen so sah und so hörte, war das, was mit Schönheit in Verbindung gebracht wurde: Reich, schön und manchmal auch sauber. Jedenfalls nicht durchs Leben gezeichnet.
Und das, was als "schön" angepriessen war, hatte auch die Macht, erotisch zu wirken. So waren es die edlen Stoffe und Farben, die eine gewisse Erotik ausstrahlen konnten. Wobei "Erotik" und "romantische Liebe" oft sich auf Unerreichbares bezogen (im Extrem: die Minne. Minnesänger waren z.T. die keuschen Beschützer der Rittersfrauen, deren Ritterfürsten auf monatelangen Kampfzügen waren). - "Verführung" hingegen, war allgegenwärtig. Die Edelfrau wurde begehrt (aber unerreichbar, weil beschützt), die Magd wurde genommen (weil treu ergeben und ohne Schutz).
Erst die Erfindung der Selbstbestimmung und die zunehmende Anwendung auf breite Teile der Gesellschaft änderte daran etwas.Noch bewege ich mich gedanklich irgendwo zwischen Neuzeit und Hochmittelalter. Wie sehr viel abweichender müssen all diese Konzepte im frühen Mittelalter oder gar in der Antike bei den Römern oder Griechen oder sonstwo gewesen sein?
Auch Michelangelo übernahm die Konzepte klassischer antiker Kunst. Auch sein nackter David bekam mal ein Feigenblatt in der jüngeren Zeit spendiert. Antike Kunst stellte fast alle idealisierten Figuren nackt dar. Nacktheit war in der Antike keinesfalls verpönt. Sportler traten zum Wettkampf unter den Augen der Bevölkerung nackt an.
Kleidung hatte in der Antike eher praktische Funktionen, wie die Standeszugehörigkeit ausdrücken, zu wärmen, vor Sonne zu schützen, allenfalls körperliche Erregung zu verbergen. Die dekorative Funktion stieg mit dem Grad der Standeszugehörigkeit. Einen erotischen Faktor der Kleidung - glaube ich - überschätzen wir, was die Antike angeht.
Auch "Liebe machen" war weniger privatisiert. Wenn ich dies mit "Verführung" weiterhin gleichsetze, so war dies gesellschaftlich relativ frei verfügbar (je höher der Stand desto verfügbarer). Erotische Signale durch Kleidung bedurfte es - meiner Überzeugung nach - kaum.
Es war das Verhalten - die Kommunikation, die Gesten, das letztlich sich Hingeben auf den verschiedenen Annäherungsstufen - was die Erotik ausmachte. Ich glaube, da reichte bei weitem nicht die entblößte Brust.
Ich denke, hirti, Deine Ursprungsfrage nach Miniröcken an der Frau versus Miniröcken an antiken Männern in puncto "Sexiness" lässt sich keineswegs undifferenziert beantworten.
Oder Kurzthese im Umkehrschluß: "Erotik" wird heutzutage viel zu sehr auf die Botschaft der Kleidung reduziert.