Was die Regeln betrifft, so beobachte ich immer wieder, daß Menschen sie einfach brauchen, um sich geborgen zu fühlen. Mich selbst nehme mich da nicht aus. Es gibt immer wieder Situationen, in denen falsches Verhalten fatal sein könnte. Während eines Flugzeugabsturzes sollte man wissen, daß man nicht durch die Notausstiege kommt, wenn man seine Schwimmweste schon innerhalb der Kabine aufpustet und daß ein dicker Wintermantel im Wasser keineswegs wärmt, sondern einen nach unten zieht. Wenn man jemandem eine schlechte Nachricht überbringen muß, ist es immer schön, wenn man die passenden Worte findet. Ohne Regeln zerfällt eine Gesellschaft, soziale Bindungen werden von Mißtrauen und Angst überschattet, da man nie wissen kann, wie der andere sich im nächsten Moment verhält. Gefährlich werden Regeln dann, wenn überreguliert wird. Juristen kennen sicherlich viele Beispiele für Gesetze, die zum Zeitpunkt der Entstehung sinnvoll waren, im Laufe der Zeit aber Makulatur wurden. In dem Zusammenhang fällt mir z.b. die Regelung für Fahrradbeleuchtung in Deutschland ein: Früher war es tatsächlich am sichersten, die Beleuchtung per Dynamo zu betreiben. Die Straßen waren viel dunkler als heute und selbst die Autos waren wesentlich schwächer beleuchtet. Dagegen stand das Risiko, mit leeren Batterien im Dunkel zu verschwinden. Heute gibt es sehr leistungsstarke Akkus, mit denen man im Verhältnis zum Dynamolicht eine grelle Festbeleuchtung am Fahrrad betreiben kann, und das für Stunden. Modernes Batterielicht ist also wesentlich besser, als Dymanolicht. Es ist aber nach wie vor nur als unabhängige Zusatzbeleuchtung erlaubt, vorgeschrieben bleibt das Dynamolicht. Im Sinne der Verkehrssicherheit müßte man diese Verordnung also umschreiben. Im Sinne der Umweltfreundlichkeit könnte man sie natürlich auch so lassen, wie sie ist; immerhin ist sie schon etwas aktualisiert worden, man erlaubt jetzt auch Standlicht. Das ist nun ein Beispiel für eine staatliche Regelung. Mit einer entsprechenden Lobbyarbeit ist es sicherlich möglich, einschneidende Veränderungen zu erreichen (es ist aber nicht gesagt, daß sich eine solche Lobby findet). Die Regel "Mann trägt Hose" hat sich dagegen in der Gesellschaft etabliert. Vielleicht hat sie auch mal irgendein Staatsmann erfunden, aber heute ist das egal, sie hat keinen erkennbaren Grund und könnte eigentlich ohne weiteres abgeschafft werden. Allerdings gibt es nur wenige, die das gerne möchten, den meisten ist es wohl egal. Komischerweise gibt es tatsächlich Leute, die darauf bestehen. Es ist eigentlich schade, daß eine moderne Gesellschaft nicht in der Lage ist, das eigene Regelwerk zu lüften und überflüssiges zu entsorgen. Der Gedanke, daß vor Gott alle Menschen gleich sind, ist biblisch, und vielleicht war es tatsächlich notwendig, die Einschränkung "vor Gott" zu benutzen. Und obwohl öffentlich beinahe Konsenz darüber herscht, daß Menschen ungeachtet ihrer sozialen oder geografischen Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Ausrichtung etc. gleich behandelt werden sollten, hat sich dieser Konsenz in Taten noch nicht durchgesetzt. Man könnte sich wirklich fragen, ob dieser Grundsatz der menschlichen Natur widerspricht. Daß die Frage der Beinkleidung dabei zu kurz kommt, ist eigentlich kein Wunder. Aber was sind die Regeln, nach denen ein Mensch tatsächlich lebt? Ich glaube, die Regeln sind die Summe der Erfahrung, die man im Leben macht, angefangen beim Zusammenleben mit der eigenen Familie oder deren Ersatz. Wenn die eigene Erfahrung mal versagt, wird man unsicher, man weiß nicht, wie man sich verhalten soll. Manche erinnern sich dann an ihre Kindheit und probieren einfach etwas aus. Andere erstarren oder fliehen. Oder sie finden ein paar Regeln, mit denen sich die Angelegenheit angehen läßt. Ich schweife ab! Ich hatte festgestellt, daß die Gesellschaft nicht in der Lage ist, das eigene Regelwerk zu entrümpeln. Genauso schwierig ist es für den einzelnen, das mag die Erklärung dafür sein. In vielen Situationen steht man ohne Regeln hilflos da und läuft gefahr, schwere Verluste zu erleiden, von einer schlechten Behandlung bis hin zum eigenen Tod. Vielleicht halten wir deswegen so sehr an Regeln fest, solange wir nicht davon überzeugt sind, daß eine einzelne Regel falsch ist. Und dann wird diese falsche Regel natürlich am besten durch eine richtige ersetzt, sie fällt nicht einfach ersatzlos weg.