Die Frage nach einer Bringschuld ist in erster Linie philosophisch, denn sie ist rational. Da wir uns aber über ein Verhalten unterhalten, dass nicht nur intuitiv bzw. emotional, sondern auch noch archaisch verwurzelt ist, wird es schwer die Wahrheit einzuklagen oder anderweitig logisch durchzusetzen.
Das evolutionär gewachsene Wesen des Menschen wird nicht primär von seinem Verstand bestimmt, sondern von Vererbung und den emotionalen Erfahrungen durch Umwelt und Erziehung. Es heißt nicht ohne Grund: „Glauben versetzt Berge“ und nicht „Wissen versetzt Berge“. Daniel Kahneman beschreibt das sehr gut in seinem Bestseller “Langsames Denken schnelles Denken“. Für seine Ergebnisse hat er den Nobelpreis bekommen.
Wir handeln immer voreingenommen. Wir sehen jeden Menschen durch eine vorbereitete Brille. Und wenn mir meine Gefühle sagen, dass Röcke ausschließlich für Frauen sind, dann will ich nicht wahrhaben, das dem Nico das schwarze Kleid gutsteht. Ich urteile also voreingenommen im Sinne meiner Weltanschauung. Ich habe auch Angst von diesem Verhalten abzuweichen, weil Offenheit und Toleranz als Schwäche ausgelegt werden können. Ich mache meine Werte und Moral etc. angreifbar. Wenn ich den Nico also toleriere und andere Männer folgen dann auch noch Nicos Beispiel, ja wo kommen wir dann hin. Am Ende muss noch jeder Mann einen Rock anziehen.
Was kann man gegen stereotype Denkweisen tun, die ein zentraler Teil unserer Biologie sind? Das ist eine schwierige Frage, denn mit Vernunft kommen wir hier nur wenig weiter. Menschen ändern nur selten ihr Verhalten durch Aufklärung. Man schützt Menschen nicht vor Fehlern indem man ihnen theoretisches Wissen gibt. Gerade Jugendliche sind da beispielsweise außerordentlich resistent. Sie müssen erst ihre eigenen Fehler machen, um dann aus der eigenen Erfahrung zu lernen. Erst die persönliche und emotionale Erfahrung lässt richtig lernen. Erst Erlebnisse, die sich auf die Gefühlslage auswirken, lassen eine Bereitschaft für Veränderung entstehen. Grundsätzlich gilt also, dass wir emotional berühren müssen.
Am einfachsten gelingt das in unserer näheren Umgebung, wo man uns kennt und wir bereits als sympathisch wahrgenommen werden. Hier gibt es eine Basis die belastbar sein sollte. Es ist ein Anfang, wenn z.B. ein Arbeitskollege sagt: „Der Nico kleidet sich sonderbar, aber eigentlich ist er ein netter Kerl“. Hier liegt eine Bereitschaft vor sich weiter mit dem Sonderbaren zu beschäftigen, weil auf anderer Ebene eine Beziehung besteht, die durch Sympathie charakterisiert ist. Das macht beim Trennenden Fortschritte möglich und kann von Toleranz zu Akzeptanz führen.
Wenn ich im Konsens mit der Gesellschaft Akzeptanz für mein abweichendes Verhalten suche, muss ich einerseits mit Konventionen brechen und an anderer Stelle gleichzeitig gesellschaftliche Erwartungen erfüllen. Wenn man mit positiven Charaktermerkmalen punktet, können die anderen bei auffälligem Bekleidungsverhalten großzügig sein. Das ist dann die Minimalvereinbarung oder der Strohhalm, den wir für den Tipping Point (Wendepunkt) nutzen müssen. Es muss ein belastbarer Beziehungsfaden entstehen, der auch Geduld erfordert, schließlich greifen wir Festungen an, die nach Gesetzen funktionieren, die in Jahrtausenden gewachsen sind. Das weiche Wasser ist erst durch Permanenz erfolgreich. Des Weiteren ist das Austarieren der Belastbarkeit unseres Beziehungsfadens verantwortlich für das Ausmaß von Veränderung. Radikalere Wege sind meist nicht zu empfehlen, weil sie an besondere Umstände gebunden sind, um erfolgreich zu sein. Meist überwiegen die Risiken.