Liebe Leute,
mal die Sichtweise eines Nichtabiturienten gefällig?
Holger hat m. M. nach etwas sehr Bedeutsames und Richtiges erwähnt: „ Viele Sprachforscher, wie Linguistiker, Soziologen, Anthropologen und Philosophen (inkl. Wittgenstein, Gadamer, Russell und Austin) haben sich sehr breit dazu geäußert. Danach gibt Sprache die gesellschaftlichen Strukturen wider...“
Micha hat auch recht, wenn er darauf hinweist, Sprache beeinflusse auch die gesellschaftlichen Prozesse.
Mir scheint da eine Korrelation zu bestehen, aber nach meiner Überzeugung herrscht der Mechanismus vor, daß Sprache gesellschaftliche Veränderungen eher widerspiegelt statt sie generieren. Ein gutes Beispiel ist, wie ich gelernt habe, daß das Türkische keine geschlechtsspezifischen Artikel kennt. Gibt es unter uns jemanden, der behauptete, in der traditionellen türkischen Gesellschaft sei die Frau gleichwertig? Gibt es etwa sogenannte Ehrenmorde, bei denen junge türkische Männer ermordet werden, weil sie gegen den Sittenkanon verstoßen?
Daraus ergäbe sich für mich folgendes Szenario: Insofern mehr und mehr Frauen beruflich und sonstwie exponiert in Erscheinung treten, umso mehr wandelt sich, mehr oder weniger unbewußt, die Haltung gegenüber dem gemeinten Inhalt des generischen Maskulinums: es wird, was es immer war: die Sammelgrube für alle Menschen, die unter den jeweiligen Begriff fallen wie Ärzte, Rechtsanwälte u. s. w. u. s. w.
Wer wie ich gern Reportagen, Nachrichten und Nachrichtenmagazine schaut, entdeckt mehr und mehr Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen etc., gerade in unseren Corona-Zeiten, die etwas zum Thema zu sagen haben.
Ich behaupte: lassen wir das aus meiner Sicht unsägliche Bemühen, die Sprache zu „verhunzen“, wird in geschätzt einer, vielleicht zwei Generationen niemand mehr bei dem Begriff z. B. Ärzte primär an Männer denken. Das Gleiche gälte dann auch für Diverse, die selbstverständlich eingeschlossen sein werden.
Damit ist natürlich nicht das Problem gelöst, daß Letztere sich wehren werden gegen eine geschlechtsspezifische Anrede wie „Herr...“ oder „Frau...“. Ich gebe zu: dafür habe ich auch keine Lösung, die in unserer Sprache grammatikalisch und stilistisch halbwegs korrekt und elegant einzufügen wäre und von der Bevölkerung angenommen würde.
Unter o. a. Vorzeichen verstehe ich übrigens nicht ganz Michas Behauptung, Susanne Bobeck sähe nicht, daß eine binäre Schreibweise viel mehr gendere als eine, die versucht, alle Genderidentitäten mit einem gemeinsamen Begriff zu bezeichnen. Dazu hätte ich noch Erklärungsbedarf.
Hajo, bitte verzeihe mir, daß ich Deine folgende Behauptung für Unsinn halte: „99 Ärztinnen und ein Arzt werden übrigens ganz korrekt mit dem generischen Maskulinum "Ärzte" (nicht etwa "Ärztinnen") bezeichnet. Ein Mann ist in der Grammatik so viel wert wie 99 Frauen. Und warum? Weil er einen Penis hat. Das ist Qualifikation genug.“
Denken wir uns, es gäbe statt des generischen Maskulinums das feminine als Standard: wie stände es dann mit Deiner Behauptung? Wäre dann eine Frau grammatikalisch genau soviel wert wie 99 Männer, weil sie eine Vagina hat und dies Qualifikation genug sei?
Hier siehst Du m. M. nach ein Werturteil, das die Grammatik nicht besitzt. Sie drückt nach meinem Empfinden keine Hierarchie aus!
Auf die Spitze treibend könnte sogar behaupten, das feminine „die“ sei, wenn überhaupt, hierarchisch höher angesiedelt als das „der“: der maskuline Artikel „der“ bezeichnet nur einen Mann bzw. ein grammatikalisch männliches Objekt, hingegen der Artikel „die“ die Gesamtheit aller Personen bzw. Objekte bezeichnet.
Aber nochmal kurz zurück zur Sprache an sich: (Provokation ein) manchmal, wenn ich richtig sauer bin, kommt mir die Diskussion über gendergerechte Sprache vor wie ein von Emanzen, die ein neues Schlachtfeld suchten, künstlich ins Leben gerufener Kampf wider das Patriarchat, die aber gleichzeitig fanatisch verbissen ihre geschlechtsprivilegierten Erbhöfe verteidigen, siehe die von gewissen Frauen mit lächerlich anmutenden Argumenten geführte Diskussion über bzw. gegen die Wehrpflicht auch für Frauen, als sie höchstrichterlich bestätigt bekommen haben, auch Wehrdienst leisten zu dürfen. Gleiches Recht für alle?
Ich liebe unsere Sprache! Ich empfinde sie als schön und, glaubt man Leuten, die sie als Fremdsprache erlernt haben, ist sie mehr als einige oder gar viele Sprachen wesentlich geeigneter, etwas präzise auszudrücken. Es schmerzt mich daher fast körperlich, wenn o. a. Emanzen offensichtlich kein Empfinden für die Schönheit der Sprache als solche besitzen und daran herumschrauben als Werkzeug für ihre Mission (Provokation aus).
Ich möchte nicht mißverstanden werden: Sprache lebt, wandelt sich und unsere Gegenwartssprache unterscheidet sich erheblich von der beispielsweise des 19. Jahrhunderts. Ich habe auch nichts gegen die Vereinnahmung von Fremd- und Lehnwörtern, solange sie nicht zum Lächerlichen degenerieren, wie z. B. die Schein-Anglizismen „Showmaster“, „Handy“, „publik-viewing“, „Oldtimer“, „Hometrainer“ etc. etc. Da war bzw. ist wohl einigen „Influencern“, um ein erneutes Modewort zu gebrauchen, die gefühlte, aber tatsächlich nur verkümmerte Weltläufigkeit zu Kopf gestiegen, in dem anscheinend noch viel freier Raum war.