Vor einiger Zeit habe ich ein beiges Poloshirtkleid gekauft. Ich fand die Idee gut, weil ich dachte, dass ein Kleid auf Basis eines Poloshirts und davon habe ich viele im Kleiderschrank, eine klassisch männliche Note bekommt. Im Grunde genommen ist mein Polokleid ja nur ein verlängertes Shirt. Es ist kniefrei und ohne A-Linie oder Falten. Wenn ich damit in den Badezimmerspiegel schaue, sehe ich einen Mann mit einem schlichten Poloshirt. Trete ich zwei Schritte zurück, sehe ich auch meine Knie und es entsteht ein völlig neuer Eindruck. Überträgt sich der erste Eindruck vom Shirt auf’s Kleid? Ich kann mich spontan nicht entscheiden. Der Anblick ist einfach zu neu und ungewohnt. Soll ich es am Strand tragen? Na klar probiere ich das aus, aber sicherheitshalber in Kombination mit meinem Stetson-Cowboyhut.
Ich bin mir sicher, hier im Forum bekommt so ein Kleid am Mann breiten Applaus. Die Resonanz meiner Umwelt war aber diesmal deutlich negativer als bei meinen anderen Outfits. Meine Töchter vermissen meine „kernige“ Note. Andere sagen, es sieht zu sehr nach Frauenkleid aus oder das die Beine nicht zum kurzen Fummel passen. Die meiste Kritik bezieht sich auf meine kurzen dicken Beine im viel zu kurzen Kleid. Meine Frau empfiehlt dagegen eine Langhaarperücke, damit die Erscheinung insgesamt wieder stimmig in eine Richtung wird und zwar in die Weibliche.
Das brachte mich auf eine Idee, um die Bewertungen besser zu verstehen. Ich machte von dem Outfit ein Foto und ersetzte mit Photoshop den Kopf gegen den einer durchschnittlich aussehenden Frau. Ich zeigte Leuten zuerst das Original mit meinem Gesicht, und wenn die bekannte Kritik wegen der Beine kam, zeigte ich das andere Bild mit meinem Körper und dem Frauenkopf. Dann bekomme ich prompt von absolut jedem Befragten sinngemäß fast die gleiche Antwort: „Ja, genau. Da siehste doch selbst, dass der Frau das Kleid viel besser steht als dir. Kleider sind halt für Frauen gemacht. Die haben den passenden Körper.“ Als Zugabe gibt es nach jeder Antwort ein breites Grinsen, dass das Offensichtliche noch mal unterstreicht. Obendrein meint ein Kollege: „Holger werd ‘ne Frau, dann wird das auch was mit dem Kleid.“
Ich könnte die Antworten halbwegs verstehen, wenn sie sich tatsächlich auf das Bild einer Frau in einem Kleid beziehen würden mit schlanken, langen Beinen. Aber die Beine, denen das Kleid angeblich steht sind meine Beine. Ich hatte doch mit Photoshop meinen Kopf gegen einen Frauenkopf ausgetauscht.
Offensichtlich bewerten die Leute nicht objektiv. Sie schauen sich nicht die Beine an, um ein Urteil zu fällen, bei dem sie sich aber auf die Beine beziehen. Hätten sie nicht sagen müssen, dass Frauen im Allgemeinen ein solches Kleid besser steht, aber eben dieser Frau auch nicht?
Kann es sein, dass die Leute einfach nur den Kopf sehen und dann ein Urteil fällen, das sich mit dem Rollenbild deckt? Sie sehen einen Frauenkopf und Frauen tragen anerkannter Weise Kleider, ergo steht der Frau das Kleid. Die Qualität der Beine ist dann plötzlich sekundär. Und wenn das Kleid auf dem Foto einen Männerkopf hat, geht bei den Leuten eben eine andere Schublade auf.
Bei mir entsteht der Verdacht, dass wir nicht sehr objektiv sind. Werten wir unabhängig, oder durch die Brille unserer Gewohnheiten und Prägungen? Sind wir somit voreingenommen? Ist es nicht geradezu infam als Urteilsbegründung auch noch ein Kriterium (die schöneren Frauenbeine) heranzuziehen, das für die Urteilsfindung gar nicht geprüft wurde?