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Andere interessante Themen => Lieblingsbeschäftigungen => Thema gestartet von: Holger Haehle am 05.03.2017 16:23

Titel: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: Holger Haehle am 05.03.2017 16:23
Mein Hobby ist die Welt und Deutschland als ein Teil dieser Welt. In letzter Zeit geriet unser Hauptthema Rock manchmal zur Nebensache, wenn verstärkt über Deutschland und deutsche Innenpolitik gesprochen und gestritten wurde. Offensichtlich hinterlässt der Wahlkampf erste Spuren im Forum. Da habe ich mir gedacht, dass vielleicht einige Leute neugierig sind, wie der Blick auf Deutschland und seine politischen Protagonisten von außen ausfällt, z.B. aus Sicht der Taiwaner.

Deutschland ist geil. So denken die meisten Taiwaner und deutsche Produkte sowieso. Wer es sich leisten kann fährt Mercedes. Selbst ein VW ist cooler als ein Toyota. Vielen deutschen Produkten wird oft zur Verkaufsförderung eine deutsche Fahne aufgeklebt. Das gilt sogar für Verbrauchsartikel wie Zahnpasta.

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Das wirkt schon mal komisch, wenn Braunrasierer eine deutsche Flagge zieren, aber daneben die Phillipsgeräte ohne die niederländischen Nationalfarben bleiben. Man zahlt hier gerne etwas mehr, weil man von der überlegenen Qualität deutscher Arbeitsleistung überzeugt ist. Und so haben sogar typisch asiatische Produkte wie Chinaöl (Bio-Diät-Berlin GmbH) und Gingko-Extrakte (Tebonin von Schwabe) einen Markt, wenn sie Made in Germany sind, obwohl sie deutlich teurer sind als traditionelle, einheimische Zubereitungen.

Die Qualität aus deutschen Landen wirkt sich auch auf das Bild vom Deutschen aus. Da die meisten westlichen Ausländer in Taiwan aus Nordamerika sind, werde ich im Alltag pauschal als „Ami“ eingestuft. Stellt sich dann bei genauerem Kennenlernen heraus, dass ich aus Deutschland komme, so schlägt mir gleich mehr Ansehen entgegen. Deutsche Menschen gelten so wie deutsche Autos als zuverlässiger. Weiterhin gelten Europäer und insbesondere Deutsche als gründlicher, verantwortungsvoller und weniger überheblich als US-Amerikaner. Gerade amerikanischer Nationalstolz wird in Taiwan als unangebrachte Überlegenheitsgeste negativ und tendenziell rassistisch gesehen, schließlich kann man hier auf eine Jahrtausende alte chinesische Kultur zurückblicken.

Der deutsche Staat mit seiner Infrastruktur gilt ebenso als vorbildlich und wird gerne als Vorlage für Reformen genommen. Selbst das deutsche Gesundheitswesen wurde in wesentlichen Teilen übernommen. Und auch das Rechtswesen folgt dem deutschen und nicht dem anglikanischen System. Das ist so, weil der Einfluss deutscher Errungenschaften sich in Taiwan sehr stark durch Uni-Absolventen verbreitet, die in der Bundesrepublik ihre Diplome und Promotionen erworben haben. Wenn die Führungspositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft besetzen, dann predigen sie, was sie in Deutschland gelernt haben. Das macht die Bundesrepublik in vielerlei Hinsicht zum goldenen Standard, an dem man sich ausrichtet. Eltern schicken ihre Kinder lieber nach Heidelberg als an eine amerikanische Elite-Uni. Taiwaner studieren nicht in Deutschland, weil sie es nötig haben, sondern weil man es sich leisten will. Es geht dabei um die besondere internationale Qualität und Prestige.

Ganz aktuell hat die Präsidentin von Taiwan Tsai Ing-Wen die Aussöhnung Deutschlands mit Israel als vorbildlich bezeichnet. Das könne zur Aufarbeitung der Verbrechen durch den Militär- und Polizeiapparat der Kuomintang (KMT) in den Nachkriegsjahren beitragen. Sie hoffe, dass es solche Szenen, wie sie es bei Holocaust-Gedenkzeremonien gesehen hat, wenn ehemalige Opfer und Täter jetzt Seite an Seite stehen, eines Tages auch in Taiwan geben wird. Hierzu muss ich erklären, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien die chinesische Regierung unter Chiang Kai-Shek den Kommunisten unterlegen war. Die Nationalisten zogen sich daraufhin auf die Insel Taiwan zurück, wohin Mao Tse-Tung mit seinen Truppen nicht folgen konnte. Auf Taiwan wurde dann das Kriegsrecht verhängt und missbraucht um zigtausende oppositionelle Taiwaner zu ermorden. So sollte die Macht der Kuomintang-Partei als Diktatur unter Chiang Kai-Shek etabliert werden. Nachfolgend: Die Taiwanische Präsidentin Tsai Ing-Wen während ihrer Rede zum Jahrestag für die Opfer des Chiang Kai-Shek Regimes.

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Deutschland hat sich sehr positiv entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Exportschlager. Sie ist Referenz und Vorbild nicht nur in Taiwan. Von ähnlichen Beobachtungen kann ich aus Südkorea berichten. Als während der US-Wahlen vermehrt Bücher über Hillary Clinton in die Bestsellerlisten rückten, fanden die nicht den gleichen Absatz wie die Bücher über Angela Merkel. Ich habe mir amüsiert Woche für Woche die Verschiebungen auf der Bestsellerliste angesehen. Die Bundeskanzlerin beeindruckt Taiwaner als souveräne und durchsetzungsstarke Führerin Deutschlands und „inoffizielle Präsidentin“ der EU. Sie führt das Ranking deutlich an vor allen anderen europäischen Staatschefs. Ohne sie, so befürchten einige, könnte die EU auseinanderbrechen. Sehr positiv wird auch bewertet, dass sie sich kritisch und für Menschenrechte speziell gegenüber China positioniert. Ein Arzt im Ruhestand, der in Münster Medizin studiert hat sagte mir vor kurzem nach den US-Wahlen: Jetzt wo Trump Präsident ist, gibt es nur noch einen Staatschef mit Weltformat – eure Bundeskanzlerin. Mit dieser Meinung zu Angela Merkel steht er in Taiwan nicht allein.

Der Blick von außen auf Deutschland zeigt, dass trotz aller aktuellen innenpolitischen Probleme, Deutschland im internationalen Vergleich als spitze bewertet wird. Mir scheint es durchaus angebracht auf die Leistungen von „Nachkriegsdeutschland“ höchst erfreut zu sein. Es lohnt sich sicherlich die Politik auf diesem Kurs in ihren Grundzügen fortzusetzen (natürlich mit Korrekturen).

Viele Ausländer verstehen nicht das „deutsche Jammern und Meckern auf hohem Niveau“. Und ich verstehe es seit meinen Auslandserfahrungen auch immer weniger. Warum werden die Erfolge so gerne zerredet, statt sie zu genießen? Wieso sieht man so gerne Probleme, wo Deutschland doch schon mit ganz anderen Herausforderungen fertig geworden ist? Wieso herrscht in der Bevölkerung so viel Angst, statt mit Entschlossenheit der Zukunft mutig entgegenzutreten? Wir schaffen das schon, wenn wir das Erfolgsmodel Bundesrepublik Deutschland beherzt weiterstricken und uns manchmal einfach etwas mehr zusammenreißen!


Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: MAS am 05.03.2017 23:44
Danke für diesen Bericht, Holger!

Sicher sieht aus der Entfernung einiges anders aus als aus der Nähe. Aber schön zu lesen, ist es allemal!

LG, Micha
Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: cephalus am 06.03.2017 02:55
Danke für den Einblick, Holger.
Auch ich interessiere mich immer für die Sicht auf Deutschland, wenn ich mich in anderen Ecken de Welt aufhalte.
Was mich immer wieder erstaunt, sind die ausländischen Kenntnisse über deutschen Fußball, sogar in Ländern, in denen Fußball keine bedeutung hat. Für einen daran total Uninteressierten, wie mich, unbegreiflich.

Auf der anderen Seite war ich auch schon gelegentlich überrascht, dass Deutschland unbekannt war, z.B. des öfteren in Afrika und Indien...


Viele Ausländer verstehen nicht das „deutsche Jammern und Meckern auf hohem Niveau“. Und ich verstehe es seit meinen Auslandserfahrungen auch immer weniger. Warum werden die Erfolge so gerne zerredet, statt sie zu genießen? Wieso sieht man so gerne Probleme, wo Deutschland doch schon mit ganz anderen Herausforderungen fertig geworden ist? Wieso herrscht in der Bevölkerung so viel Angst, statt mit Entschlossenheit der Zukunft mutig entgegenzutreten?

Tja , anderen Orts jammert man über die Umstände , bei uns darüber, dass vielleicht irgendwie, irgendwann etwas anders und damit u.U. schlechter werden könnte- vielleicht weil sich keiner vorstellen kann, dass es noch besser wird.
Eine Mentalitätssache?
Cephalus

Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: MAS am 06.03.2017 08:43

Viele Ausländer verstehen nicht das „deutsche Jammern und Meckern auf hohem Niveau“. Und ich verstehe es seit meinen Auslandserfahrungen auch immer weniger. Warum werden die Erfolge so gerne zerredet, statt sie zu genießen? Wieso sieht man so gerne Probleme, wo Deutschland doch schon mit ganz anderen Herausforderungen fertig geworden ist? Wieso herrscht in der Bevölkerung so viel Angst, statt mit Entschlossenheit der Zukunft mutig entgegenzutreten?

Tja , anderen Orts jammert man über die Umstände , bei uns darüber, dass vielleicht irgendwie, irgendwann etwas anders und damit u.U. schlechter werden könnte- vielleicht weil sich keiner vorstellen kann, dass es noch besser wird.
Eine Mentalitätssache?
Cephalus



Vielleicht hat aber auch die deutsche Präzision etwas mit Perfektionismus und der wiederum genau mit der Angst zu tun, es könne schlecht(er) werden, etwas nicht (mehr so wie es sein soll) funktionieren usf. Mit anderen Worten: Die Mentalität, die wir gerade bejammern (ja, auch wir bejammern hier etwas) ist vielleicht gerade der Motor für unsern Erfolg.

LG, Micha
Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: Jo 7353 am 07.03.2017 22:26
Von der Ferne sieht man nicht hinter die Fasaden, und den Dreck in den Ecken sieht man auch nicht. Andererseits blicken wir manchmal so sehr auf unsere nicht perfekte Punkte, daß wir das Gute in Deutschland einfach übersehen.

Keine Sicht ist perfekt. Da tut des Beachten von Sichten aus der Ferne gelegentlich gut.

Gruß,
Jo
Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: MAS am 07.03.2017 23:46
Von der Ferne sieht man nicht hinter die Fasaden, und den Dreck in den Ecken sieht man auch nicht. Andererseits blicken wir manchmal so sehr auf unsere nicht perfekte Punkte, daß wir das Gute in Deutschland einfach übersehen.

Keine Sicht ist perfekt. Da tut des Beachten von Sichten aus der Ferne gelegentlich gut.

Gruß,
Jo

Ja, genau! Das Stichwort heißt "Perspektivwechsel": Immer wieder mal die Perspektive zu wechseln und sich eine Sache von mehreren Seiten, mit mehreren Brennweiten und Schärfentiefen zu betrachten, schützt vor Einseitigkeit.

LG, Micha
Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: Holger Haehle am 08.03.2017 16:48
Jo hat recht, wenn er sagt, dass keine Sicht perfekt ist. Jede Sicht auf eine Sache ist mehr oder weniger einseitig. Das Problem kann man ein wenig lösen durch das, was Micha einen Perspektivwechsel nennt. Ideen bekommt man jedenfalls leichter, wenn man den allgemeinen Trott verlässt und von einem anderen Blickwinkel auf  ein Problem sieht. Viele Unternehmen engagieren externe Berater, weil die eigenen Experten "betriebsblind "sind.
Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: Mann im Rock am 08.03.2017 19:20
Viele Unternehmen engagieren externe Berater, weil die eigenen Experten "betriebsblind "sind.

Ein beliebtes Argument. Im allgemeinen kennen interne Mitarbeiter die betriebsinternen Abläufe, wissen was faul ist und hätten auch genug Vorschläge, um die Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Sie werden aber oft von den Chefs nicht gehört, weil diese lieber Duckmäuser und Ja-Sager haben wollen. Externe Berater werden tatsächlich meist für einen Stellen- und/oder Sozialabbau zum Zwecke der "Kostenoptimierung" engagiert, weil interne Mitarbeiter natürlich nicht ihren eigenen Ast absägen würden.

Wenn man hierzulande irgendwas kritisiert, wird einem gern entgegen gehalten, dass es uns doch soooo gut geht. Das mag stimmen, was die wirtschaftlichen Werte angeht. Aber seit wann bedeuten gute Wirtschaftswerte des Staates auch großes individuelles Glücklichsein? Und braucht man zum Glücklichsein gute Wirtschaftswerte?

Gruß Matthias



Titel: Re: Mein Hobby ist die Welt - Deutschland aus der Sicht der Taiwaner
Beitrag von: MAS am 08.03.2017 19:32
Viele Unternehmen engagieren externe Berater, weil die eigenen Experten "betriebsblind "sind.

Ein beliebtes Argument. Im allgemeinen kennen interne Mitarbeiter die betriebsinternen Abläufe, wissen was faul ist und hätten auch genug Vorschläge, um die Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Sie werden aber oft von den Chefs nicht gehört, weil diese lieber Duckmäuser und Ja-Sager haben wollen. Externe Berater werden tatsächlich meist für einen Stellenabbau engagiert, weil interne Mitarbeiter natürlich nicht ihren eigenen Ast absägen würden.

Wenn man hierzulande irgendwas kritisiert, wird einem gern entgegen gehalten, dass es uns doch soooo gut geht. Das mag stimmen, was die wirtschaftlichen Werte angeht. Aber seit wann bedeuten gute Wirtschaftswerte des Staates auch großes individuelles Glücklichsein? Und braucht man zum Glücklichsein gute Wirtschaftswerte?

Gruß Matthias


Du sprichst das Bruttosozialglück an, Matthias, gell?
https://de.wikipedia.org/wiki/Bruttonationalgl%C3%BCck (https://de.wikipedia.org/wiki/Bruttonationalgl%C3%BCck)

LG, Micha