Eigensinn statt Klischeedenken
Liebe Leserinnen und Leser,
gehören Sie zu denjenigen, die beim Anblick eines rocktragenden Mannes verblüfft gucken und sich fragen, ob Sie da jetzt einen Schotten oder einen Transvestiten vor sich haben?
Nun, beides wäre möglich, aber lassen Sie es sich gesagt sein: Seit einigen Jahren nimmt in diesem unserem Lande die Zahl der Männer zu, die Röcke als ganz normale Alltagskleidung tragen, genau so, wie schon ca. 90 % der Frauen alltäglich Hosen tragen. Die allermeisten dieser Männer sind weder Schotten noch Transvestiten. So allmählich sollte sich das eigentlich rumgesprochen haben.
Ja aber, werden Sie sich vielleicht fragen, wie kommen diese Männer denn dazu? Wieso tragen sie denn Röcke statt Hosen?
Ich muss sagen, mir erscheint es eher sehr fragwürdig, wie man als Mann nicht dazu kommen kann. Man muss doch nur drei Dinge zusammenbringen, dann ist der Schritt in den Rock die ganz normale Konsequenz:
1. Man sieht doch, dass Mädchen und Frauen Röcke und Hosen tragen, mal so, mal so, während Jungen und Männer immer nur Hosen tragen. Wenn nun also die Hose kein Kleidungsstück nur für Jungs und Männer ist, wieso soll dann der Rock nur für Mädels und Frauen da sein? Das wäre doch eine ungerechte Aufteilung.
2. Männer in vielen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart trugen bzw. tragen Röcke und Kleider. Hier bei uns kam das vor ca. 500 Jahren aus der Mode und wurde im Nachhinein tabuisiert. So eine blödsinnige Entwicklung muss sich doch auch wieder aufheben lassen.
3. Nun kommt die Neugier des immer nur Hosen tragenden Jungen oder Mannes, wie sich denn so ein Rock anfühlt. Man probiert es aus, und dann ist es wie mit vielem: Man mag es oder man mag es nicht. Ich jedenfalls liebe es, wenn an warmen Tagen auf diese Weise mehr Luft an und zwischen die Beine gelangt und der Stoff des Rocks beim Gehen die Beine berührt.
Ja aber, werden Sie vielleicht sagen, das ist doch so ungewohnt und so auffällig!
Ja schon, aber wenn die Frauen da so eine Angst vor gehabt hätten, ein bisschen aufzufallen, dann würden sie heute noch keine Hosen tragen. Nun ist es bei Menschen beiderlei Geschlechts so, dass einige es lieben aufzufallen, während andere lieber unauffällig im Unter- oder Hintergrund bleiben. Beides ist weder schändlich noch ehrenvoll, sondern es sind einfach unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale. Wer nicht gerne auffällt, aber trotzdem einen Rock tragen möchte, der wähle einen dunklen, einfarbigen, knapp knielangen Rock, der wird oft bei flüchtigem Hinsehen für eine Shorts gehalten. Allerdings werden sich die Menschen nicht an rocktragende Männer gewöhnen können, wenn sie keine zu Gesicht bekommen. Da sind dann die gefragt, die gerne auffallen oder ihr anfängliches Unbehagen überwunden haben. Es hängt so vieles im menschlichen Leben von der Gewöhnung ab, denn wir Menschen sind doch meistens sehr gewohnheitsverhaftet und konservativ, solange wir mit dem Gewohnten gut zurecht zu kommen meinen.
Ja aber, werden Sie vielleicht fragen, wie reagieren denn die Leute, was denken und sagen sie denn?
Ich habe in dieser Beziehung in den letzten fünf Jahren schon sehr vieles erlebt von lobender Zustimmung über Gleichgültigkeit und Verunsicherung bis zu offener Ablehnung. Manche Menschen werden aggressiv, wenn man das, woran sie sich gewöhnt haben, in Frage stellt. Mit diesen Schwierigkeiten muss jeder umzugehen lernen, der etwas Neues einführen oder etwas Altes, aber Vergessenes wieder einführen will. Es verhalten sich bei weitem nicht alle Menschen gleich, und wenn man die Mitmenschen als Subjekte in ihrer Würde und Autonomie ernst nimmt, muss man ihnen auch die Fähigkeit des Nachdenkens und Lernens zusprechen. Meine Gespräche mit Kritikern zeigten früher oder später immer, dass ich mit dieser Einstellung nicht so falsch lag. Es käme meines Erachtens einer Beleidigung der Mitmenschen gleich, wenn man ihnen generell Intoleranz und Aggression als Grundmotivation unterstellen würde. Sicher kann man es auch als Beleidigung auffassen, jemanden der Unehrlichkeit zu bezichtigen und trotzdem lassen wir nicht den Schlüssel im Auto oder in der Haustür draußen stecken. Wenn aber unter 100 Passanten ein Dieb dabei ist, ist das gefährlicher, als wenn unter 100 Passanten 20 Männerrockgegner sein sollten. In der Regel behalten die Leute ihre Meinungen für sich, und was sie für sich denken, tut mir ja nicht weh. Nun gibt es aber sicher Situationen, in denen es angeraten ist, auf den ersten Blick der vermeintlich konservativen Einstellung eines anderen Menschen zu gefallen, zum Beispiel in einem Bewerbungs- oder Verkaufsgespräch. Viele Menschen urteilen sehr schnell aufgrund angewöhnter Schemata und nehmen sich in der für den so Beurteilten wichtigen kurzen Zeit nicht die Muße der Reflexion. Solange Röcke an Männern für viele noch so ungewohnt und bisweilen negativ vorurteilsbehaftet sind, ist das Rocktragen in solchen Situationen nur in Ausnahmefällen anzuraten. Man kann ja, wenn der Chef oder der Kunde einen näher kennt und man ihn, später immer noch im Rock auftauchen.
Ja aber, denken Sie dann vielleicht immer noch, ein Mann im Rock wird doch für einen Transvestiten oder einen Homosexuellen gehalten.
Es gibt tatsächlich Leute, die erstens das alles in einen Topf werfen und zweitens die in diesen Topf geworfenen Menschen auch noch verurteilen. Eine eigenartige Gleichung scheint in ihren Köpfen ihr Unwesen zu treiben:
Rocktragende Männer = frauenkleidungtragende Männer = Transvestiten = Transsexuelle = Homosexuelle = Menschen, mit denen man besser nichts zu tun hat. Diese Gleichung ist aber vollkommen falsch und zwar in jeder ihrer Teilgleichungen, und egal, in welcher Reihenfolge man sie nimmt.
Ich will hier nur ganz kurz darauf eingehen: Transvestiten, Transsexuelle, Transgender, Travestiekünstler, Homosexuelle und rocktragende Männer bzw. hosentragende Frauen sind ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen, zwischen denen es lediglich Ãœberschneidungen gibt, so wie zum Beispiel auch zwischen Wein- und Biertrinkern oder zwischen Auto- und Eisenbahnfahrern, aber diese Gruppen sind nicht identisch. Und wer einen Menschen, der einer dieser Gruppen angehört, verurteilt, sollte sich mal wirklich damit auseinandersetzen. Es ist alles viel differenzierter als man es manchmal meint, wenn man sich ein einfaches und übersichtliches Weltbild konstruiert. Ich ziehe es vor, einen Menschen als Menschen zu nehmen, im freundlich ins Gesicht zu sehen und ihn zu respektieren als das was er ist und den gleichen Respekt von ihm zu fordern.
Vielleicht haben Sie ja nun Interesse daran gefunden, sich selbst oder Ihrem Freund oder Mann einen Rock zuzulegen, fragen aber, wo man denn so einen Männerrock kaufen kann.
Das ist nun wirklich eine schwierige Frage, aber keine unlösbare.
Erstens gibt es die Möglichkeit, in ein Land zu reisen, in dem Männerröcke noch üblich sind, zum Beispiel in Schottland oder in Südostasien und sich dort einen Kilt, einen Sarong oder einen anderen Männerrock zu kaufen.
Zweitens gibt es die Möglichkeit, sich einen Rock einer der wenigen speziellen Männerrockhersteller in Deutschland oder der Schweiz zuzulegen, was aber kein billiges Unterfangen ist.
Drittens kann man sich einen Rock auf den Leib schneidern oder schneidern lassen, was aber entweder Zeit und Können oder aber wieder viel Geld kostet.
Viertens haben auch schon Bekleidungsgeschäfte der normalen Preisklasse hin und wider Männerröcke angeboten, was aber bisher leider nur selten und kurzzeitig vorkam.
Fünftens gibt es in den Damenabteilungen der Kaufhäuser immer wieder mal Röcke, die auch einen Mann gut kleiden, obwohl Männer- und Frauenkörper unterschiedliche Proportionen aufweisen.
Da dieser Proportionsunterschied zwischen Mädchen und Jungs vor der Pubertät nicht so groß ist, ist es für diese Altersstufe leichter, einen passenden Rock oder ein passendes Kleid zu finden, aber auch für erwachsene Männer ist das nicht unmöglich. Nur muss man eben die Klassifizierung überwinden, dass es sich dabei um Damenröcke handelt. Leider kommen die Anbieter den ihnen zu spärlichen Nachfragen rockbegeisterter Männer kaum nach, und weigern sich, passende Röcke einfach mal in der Herrenabteilung anzubieten. So muss man eben individualistisch und eigensinnig genug sein, für sich selbst einen Rock als Männerrock oder als Unisexrock zu definieren.
Das hört sich in Ihren Ohren nun vielleicht alles sehr kompliziert an.
Nun, man kann es sich auch wieder einfacher machen. Ich trage seit fünf Jahren in der Öffentlichkeit dieser unserer deutschen, österreichischen, schweizerischen, französischen und niederländischen Gesellschaft Röcke zumeist aus der Damenabteilung, bekomme viele positive Meinungsäußerungen dazu zu hören und genieße das Tragegefühl auf Schritt und Tritt. Hosen trage ich auch noch, nur eben nicht immer, sondern wähle je nach Wetter, Bewegungsvorhaben und bisweilen auch gesellschaftlichen Anlässen, eben so, wie Frauen das auch tun und wie unsere männlichen Vorfahren das mal taten, vor über 500 Jahren, nur viel freier, da unsere Gesellschaft freiheitlicher ist als die damalige.
Rocktragende Männer gibt es also nicht nur in Schottland, genau so wenig wie Dudelsackspieler, aber das ist nun ein anderes Thema ...
Michael A. Schmiedel im Vorfrühling 2004, sich auf einen neuen Rocksommer freuend.