Unsere Erfahrungen, egal ob sie richtig oder falsch sind, beeinflussen uns mehr als faktisches Wissen.
Was wäre denn eine falsche Erfahrung, Holger?
M.E. kann man Erfahrungen falsch interpretieren (z.B. eine Fatamorgana als Oase) und fälschlicherweise verallgemeinern, aber die Erfahrung selbst kann doch nicht falsch sein, oder?
LG, Micha
Wenn ich in der Wüste am verdursten bin und eine Lichtspiegelung nicht als Fatamorgana, sondern als Oase interpretiere, kann das zu Entscheidungen führen, die tödlich enden. Das wäre dann möglicherweise eine falsche Erfahrung.
Komplizierter wird es beim Fußball, wenn Millionen Fans den gleichen Spielzug live sehen und die eine Hälfte ruft Abseits. Grundsätzlich kommt hier Platons Höhlengleichnis zur Anwendung.
Okay, das würde ich als falsche Interpretation der Erfahrung "Sichtung eines Flimmerns am Horizont" beschreiben. So wie im Höhlengleichnis sich bewegende Schatten erfahren werden aber verschiedenes daraus interpretiert wird.
Da sieht man mal wieder, wie unterschiedlich man mit Wörtern umgehen, wie unterschiedlich man sie interpretieren kann.
Ich habe manchmal mit Leuten zu tun, die sagen, Erfahrung sei authentisch, erlerntes Wissen nur Theorie.
LG, Micha
Natürlich ist Erfahrung authentisch, aber das ist nicht gleichbedeutend mit richtig. Erfahrung ist immer eine Mischung aus physikalischer, sensorischer Wahrnehmung und der individuellen Verarbeitung als Eindruck. Die Kriterien zur Interpretation sind in der Regel weder standardisiert noch evaluiert. So kommt es bestenfalls zu Überzeugungen, ab nicht sicher zu Wissen.
Aristoteles Kriterien für empirisches Wissen sind noch strenger. Und in der modernen Erkenntnistheorie und mit den Logikgesetzen der Informatik wird es noch pingeliger. Da mag man dann Sokrates beipflichten, der gesagt hat: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Kommunikation kann, dass erleben wir gerade bei einigen eskalierenden Streitigkeiten hier im Forum, ein Minenfeld sein, wenn es an Sensibilität und Einfühlungsvermögen mangelt. Wie dividiert man unterschiedliche Erfahrungen auseinander, wenn man auch unterschiedliche Erfahrungen mit Befindlichkeiten hat? Wie kann ein Konsens entstehen, wenn sich zwei Welten nur partiell überschneiden? In den Schulen lernen sie heute Kommunikationstheorie. Meine Tochter hat mittlerweile mehr Verständnis für die blöden Jungs. Da steckt eine Menge kognitive Psychologie drin. Das Prinzip vom „Unsichtbaren Gorilla“ und das „Linda-Prinzip“ sind verständlicher und praxisnäher als Platons Höhlengleichnis.
Manchmal finde ich es schon schade, wenn ich aus der Literatur Fakten aus Standardwerken zusammentrage und mir im Forum Pseudowissenschaftlichkeit vorgeworfen wird, indem andere Erfahrungen angeführt werden, die die Person überzeugender findet. Und es bleibt beim Vorwurf, weil ein Beleg neben der Überzeugung nicht nachgereicht wird. Das ist schon eine enorme Leistung, sich so ad hoc nur mit der eigenen Erfahrung gegen die Fachwelt zu stellen.
Wir alle haben unterschiedliche Erfahrungen und Meinungen. Deswegen ist es ja so wichtig, wenn wir verstanden werden wollen oder andere verstehen wollen, dass wir gegebenfalls andere Fühler ausfahren oder auf einer anderen Wellenlänge senden und empfangen müssen.
Jedenfalls möchte ich keinen der am Streit Beteiligten verlieren. Der Fokus liegt im Moment angesichts blanker Nerven auf das Trennende. Wägt ab, bedenkt auch, was ihr verlieren könnt.