Ich trage nun schon seit gut einem Jahr Röcke in der Öffentlichkeit. Doch wie bei jedem von uns, war es ein langer Prozess, und zwar ein jahrzehntelanger Prozess, der seine unterschiedlichen Stationen und Hindernisse zum endgültigen "Coming-Out" als männlicher Rockträger hatte. Die letzten Tage musste ich aufgrund meines "Jubiläums" über einige Schlüsselerlebnisse in meinen 33 Jahren Lebenszeit sinnieren und mein erste Erinnerung führt uns zurück in die frühen 1990er-Jahre.
Mein Bedürfnis Röcke zu tragen, ist bei mir schon in sehr frühem Kindesalter angelegt gewesen. Bereits im Alter von ungefähr vier, fünf Jahren beneidete ich das erste Mal die Mädchen in meinem Kindergarten für ihre Röcke. Ich wollte kein Mädchen sein, aber ich hatte großes Interesse an diesem Kleidungsstück. In meinem Kindergarten habe ich allerdings nie einen Rock aus der Verkleidungskiste angezogen. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Meine erste Erinnerung ist ein Faschingskostüm als römischer Soldat im Grundschulalter. Während der Kindergartenzeit lagen dem Interesse demnach keine Komfortgründe zugrunde, sondern meine Begierde war rein ästhetischer Natur.
Mir war damals schon bewusst, dass in meinem Umfeld nur kleine Mädchen und ältere Damen Röcke trugen. Kinder nehmen schließlich ganz genau wahr, wie der status quo in ihrer Umgebung ist. Männer in Röcken kannte ich nämlich nur aus dem Fernsehen (Mac Moneysac von den DuckTales oder die Römer bei Asterix & Obelix) sowie vom Gottesdienst in der Kirche (Pfarrer und Ministranten). Bei Frauen im Alter meiner Mutter sah man eigentlich fast ausschließlich Hosen und speziell meine Mutter habe ich bis heute fast nur in Hosen gesehen, weil sie Röcke und Kleider hasst und sich nur zu Hochzeiten und Beerdigungen lamentierend "gezwungen" fühlt, sowas zu tragen. Damals sah ich fast nur kleine Mädchen Röcke und Kleider tragen, weil ihre Mütter es wahrscheinlich niedlich und süß fanden. Ältere Damen im Rentenalter trugen hingegen aus konservativer Überzeugung keine Hosen, denn wir sprechen hier von den frühen 90ern. Ich kann mich noch an eine Bekannte erinnern, die damals bestimmt schon über achtzig Jahre alt war und die ich nur in schwarzen Röcken und Kleidern kannte. Sie lehnte Hosen für Frauen im Allgemeinen ab und trug dank katholischem Glaubens ausnahmslos schwarz, weil sie bei jedem verstorbenen Verwandten ein Jahr lang Trauerkleidung anzog und zu diesem Zeitpunkt altersbedingt viele starben. Sie war wohl nicht die Einzige, denn in meinem Heimatort sah ich viele Damen ihres Alters nie in einer Hose. Zurück zu mir: Mein Bewusstsein für diese Umstände ließ mich etwas vorsichtiger sein. Ich war damals schon ein ziemlich cleveres Kind und wollte natürlich nicht direkt sagen: "Mama, ich möchte einen Rock tragen.", sondern versuchte es durch die Blume.
Eines Morgens saß ich mit vielleicht fünf oder sechs Jahren am Frühstückstisch mit meiner Mutter und meiner drei Jahre jüngeren Schwester. Ich weiß gar nicht mehr, was der Aufhänger für das Gespräch war. Vermutlich erzählte meine Schwester von einer Freundin, die einen Rock trug, aber das kann ich nach so vielen Jahrzehnten nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls fragte ich meine Mutter: "Mama, wie findest du Jungen in Röcken?" Meine Mutter, die ein sehr konservatives Weltbild hat und bis heute sehr reaktionäre Ansichten pflegt, sagte wie aus der Pistole geschossen: "Jungen tragen keine Röcke! Jungen tragen Hosen!" Natürlich rechnete ich schon mit so einer Antwort, aber ich war doch sehr verwundert über diese bestimmte Vehemenz und implizierte Ablehnung, die in ihren Worten lag. Sie fügte dem hinzu: "Röcke sind Mädchenkleidung! Hosen sind Jungenkleidung!" Diese Aussage irritierte mich noch mehr, denn vor mir saßen schließlich zwei Personen, die offensichtlich weder Männer noch Jungen waren, aber trotzdem selbstverständlich Hosen trugen. Demnach erschienen mir diese Schlussfolgerungen nicht logisch, auch wenn ich das damals noch nicht so benennen konnte. Deshalb hakte ich nach: "Wieso trägst du dann eine Hose? Und wieso trägt meine Schwester eine Hose? Ihr seid doch Mädchen?!" Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass meine Kinderlogik plausibler war als die konservative Meinung meiner Mutter, die aber nur lapidar entgegnete: "Mädchen dürfen beides! Jungen nur Hosen!" Diese Doppelmoral führte aber nur zu drei großen Fragezeichen über meinen Kopf. Bei Kindern ist ja der Gerechtigkeitssinn ziemlich stark ausgeprägt und ich empfand es einfach nur als unfair, dass die Mädchen mehr durften als die Jungen. Doch als Kind glaubt man, dass es für alles eine feste Regel geben muss und auch die Erwachsenen alles zu wissen scheinen. Meine Neugierde und Wissbegier ließ mich deshalb nach dem "Warum?" fragen. Meine Mutter sagte zu meiner großen Enttäuschung aber nur: "Das ist halt so!" Sie machte sich keine Mühe, mir eine Erklärung zu geben und mal ansatzweise darüber nachzudenken. Diese Antwort hörte ich leider öfter als Kind und ich hasste diesen Satz, weil meine Eltern und Verwandten ihn meist nutzten, wenn sie nicht weiter wussten. In dieser Aussage steckte aber noch eine ganz andere Botschaft, und zwar "Ende der Diskussion!", wodurch das hierarchische Machtverhältnis und Ungleichgewicht zwischen Erwachsenem und Kind auf eine solch autoritäre Art und Weise demonstriert wurde.
Meine Schwester, die vielleicht zwei oder drei Jahre alt war, klinkte sich zu meiner Überraschung in das Gespräch ein. "Ich habe schon mal einen Jungen im Kleid gesehen.", sagte sie voller Stolz. Ob das wirklich der Realität entsprach, wage ich zu bezweifeln. Wahrscheinlich war es eher dieses Aufmerksamkeit erheischende Phantasieren von Kindern, die mit Sensation verlautbaren, dass sie etwas gesehen oder erlebt haben, bei dem das Gegenüber nicht dabei war, und dadurch als besonders gelten wollen. Vielleicht hatte sie aber wirklich schon mal einen Jungen im Kleid gesehen, der sich aus der Verkleidungskiste im Kindergarten bedient hatte. Meine Mutter reagierte jedenfalls sehr emotional: "Das sah bestimmt blöd aus!" Sie erhoffte sich wohl, dass meine Schwester ihr zustimmen würde, doch die sagte nur: "Das sah lustig aus." Als Kleinkind konnte sie natürlich nicht verstehen, dass meine Mutter der Thematik, aufgrund einer konservativen Moralvorstellung, ablehnend gegenüberstand. Für meine Schwester war es womöglich nur eine Skurrilität, weil ein Junge im Kleid von ihren bisherigen Sehgewohnheiten abwich. Meine Mutter wollte aber unbedingt eine Bestätigung von meiner Schwester hören und hakte nochmal nach: "Das sieht doch bescheuert aus! Jungen in Kleidern sind doch hässlich, oder?!" Dies verdutzte meine Schwester, die bis zu diesem Zeitpunkt sehr stolz und fröhlich von dem Jungen erzählte und sie stieß ein halbherziges "Ja." heraus. Wahrscheinlich stimmte sie zu, weil sie nichts falsches sagen oder keinen Ärger bekommen wollte.
Ich war im Nachhinein froh, dass ich es auf so subtile Weise angesprochen habe und nicht mit der Tür ins Haus fiel. Das hat mir einigen Ärger erspart. Vielleicht ahnte meine Mutter, dass ich einen Rock tragen wollte. Mit dieser Herangehensweise hätte ich mich aber gut rausreden können, dass ich ja keine Röcke tragen möchte, sondern nur aus Neugierde gefragt habe. Für einen Fünfjährigen war das alles schon ziemlich clever.