Lieber Harry und lieber Gregor,
ich würde nicht so generell sagen, dass Frauen in Hosen alle nicht männlich wirken oder sich männlich fühlen wollen. Da gibt es sicher auch eine ganz große Spannweite von Frauen, die sich in figurbetonten Hosen sehr feminin kleiden und solchen, die sich weite, figurverhüllende Hosen kleiden oder Frauen, die feine, transparente oder weiche Stoffe und Frauen, die derbe Stoffe bevorzugen, und darin eher maskulin rüberkommen. Das alles sehe ich oft. Nicht selten sehe ich Frauen, die ich erst bei genauerem Hinsehen als Frauen erkenne. Und das alles gehört auch zur Viefalt der Möglichkeiten.
Nur bei Männern sieht man diese Vielfalt seltener. Sie geben sich viel öfter deutlich männlich und vermeiden feminin wirkende Kleidungsstücke.
Aber in einem gebe ich Dir Recht, Harry: Die meisten Menschen orientieren sich vor allem daran, was andere Menschen tun. Das ist ein Herdentrieb oder, wie ich es gerne nenne, soziale Plausibilität. Ich erkläre mir das evolutionsgeschichtlich damit, dass Menschen, die sich in ihrem Verhalten mit anderen parallelisiert haben, bessere Überlebenschancen hatten und daher auch diese Verhaltenstendenz genetisch eher weiter geben konnten, als die anderen, die eigensinniger lebten und dachten. Denn die soziale Plausibilität hält die Gruppe oder Gesellschaft besser zusammen als der Eigensinn, selbst dann, wenn kollektiv falsch entschieden wird, also selbst dann, wenn sich die Gesellschaft ein Verhalten angewöhnt hat, das ihr selbst letztlich schadet, wie z.B. bei den Wahlen 1933 in Deutschland. Soziale Plausibiltät ist den meisten Menschen wichtiger als sachliche. Wie wissen alle, wie schädlich massenhaftes Autofahren für die Luft, das Klima, die Landschaft usw. ist, aber wir tun es trotzdem, weil "alle" es machen. Ähnlich ist es mit massenhaftem Fleischessen und mit so mancher anderen Verhaltensweise. Gestern meinte noch meine Schwester, die Minderheit müsse sich der Merhheit anpassen und nicht umgekehrt. Es ging darum, dass ich kein Fleisch essen wollte und sie mir extra ein Kohlrabischnitzen gebraten hat, aber diesen liebevollen Extradienst, um den ich gar nicht gebeten hatte, als eigentlich unzumutbar hinstellte. Ich meinte, die hätte ja auch für alle diese pflanzlichen Schnitzel machen können, dann hätte sie weniger Arbeit gemacht, als wenn sie für die einen Fleisch und für mich Pflanzliches macht. Es ist nun mal sozial plausibel in unserer Gesellschaft, massenweise Fleisch zu essen, obwohl wir Tiere lieben, Massentierhaltung ablehnen, die ökologischen Folgen der Massentierhaltung als schädlich einstufen. Da werden Fleischverweigerer eher als Störenfriede mit Extrawünschen diffamiert und ihre Einstellung als "Gedöns", wie mein Bruder es nannte. Aber dieses Verhalten, sich an der Masse zu orientieren, selbst dann, wenn die Vernunft anderes rät, steckt in unseren Genen. Da ist es schwierig gegen anzugehen. Wir wissen ja alle wie schwer man sich als Mann damit tut, erstmals im Rock in die Öffentlichkeit zu gehen, obwohl kein rationaler Grund dagegen spricht. Wir mussen unseren Trieb, abweichendes Verhalten zu vermeiden, überwinden. Und das ist eine schwere Arbeit an uns selbst.
LG!
Micha