Ja, Gregor,
ich kann Deine Haltung verstehen, die sich mir so darstellt nach dem Motto: "Ich kann diese Selbstbeweihräucherung (Opferrolle-Suche) von den Männern nicht mehr hören. Soll doch jeder das tun, was er für richtig hält, statt anderen die Schuld zuzuweisen, dass man es nicht tut."
Da ist was dran. Jeder hat es selbst in der Hand, was er aus seinem Leben macht.
Dennoch ist es nicht so einfach. Wie Hajo gerade richtig schrieb, können die noch so liberalsten Eltern ihre rollenunspezifischen Grundsätze umsetzen, es gibt eine Reihe von subtilen Wirkmechanismen, die eben jene Eltern nicht verhindern können.
Verwandte, Kindergärten, Schulen, Freunde der Kinder, populäre Leitbilder in der "Kultur" (ich denke an He-Man und dergleichen), Medien generell etc. üben einen starken prägenden Druck aus, dass das liberale Elternhaus leider nur ein Mosaiksteinchen mit auf den Lebensweg geben kann.
Auch wenn es genau "unser Thema" hier im Forum ist, so finde ich aber genau das Thema Bekleidung als sehr bezeichnend, wie schwierig es ist, aus diesen subtilen Erwartungshaltungen auszubrechen und die Rollenerwartungen abzulehnen, wenn man sich darin unwohl fühlt.
Dieser Umstand übt Druck aus, um nicht zu sagen, psychische Gewalt. Wie das zu einer "toxischen" Rollenerfüllung führt, hat der erwähnte Artikel schon dargestellt.
Und da ist was dran. Viel dran.
Natürlich ist nicht alles per se schlecht, was an Rollenzuteilung die kulturelle Entwicklung des Menschen hervorgebracht hat. Manches war notwendig über die Jahrhunderte/Jahrtausende hinweg, manches ist auch heute noch sinnvoll, will sich die Menschheit effektiv als Lebensform weiterhin auf diesem Planeten behaupten. Wobei ich hier den gutgemeinten Umwelt-/Natur-Gedanken nun grade nicht in diese Philosophie einbeziehen möchte. Würden von heute auf morgen alle Menschen ihre Rollenzuweisungen ablehnen, würden die nächsten Menschengenerationen zumindest sich anders gestalten. Vielleicht schon alleine quantitativ. (Wobei ich über die Qualität mir kein Urteil bilden möchte, vielleicht würde sie zunehmen, wer weiss.)
Es ist nicht alles schlecht, was tradiert ist. Vielleicht haben sogar Rollenzuweisungen mehr Sinn als uns allen lieb ist.
Aber ich lehne einen guten Teil davon für mich persönlich auch ab. Drum halte ich den Ausdruck der "toxischen Männlichkeit" für einen sehr treffenden. Im Artikel sind ja auch verschiedenen Zusammenhänge bis hin zu dem klassischen Stichwort "Kriege" erklärt.
Sehr schön auch erwähnt, dass im klassischen "westlichen" Männlichkeitsbild, kapitalistisch eingefärbt, die wenigsten Männer von diesen Rollenzuschreibungen wirklich profitieren. Die meisen leiden mehr darunter als sie profitieren. Die meisten merken das noch nicht mal, sondern entladen das über Ventile.
Die wenigsten Männer merken z.B. nicht, dass sie genau genommen unter der Erwartung, Hosen tragen zu müssen, und sich nicht zu sehr für Mode interessieren zu müssen/dürfen, leiden. Weil sie toll eingebunden sind in das System der "toxischen Männlichkeit".
Nachdenkenswert halte ich, was es eigentlich mit der "toxischen Weiblichkeit" auf sich hat. Die wird es sicherlich auch geben (vielleicht in der Form der "Stößchen"-Kultur, der Prosecco-Bewegung, aber auch Magersucht oder wer weiß ganz woanders). Doch aus meiner Sicht aus der Opferrolle Mann heraus, denke ich, dass die "toxische Weiblichkeit" weniger gesellschaftliche Schäden hinterlässst (quantitativ wie qualitativ) als die "toxische Männlichkeit".
Ich halte es für wichtig, zu erkennen, dass das "Leitbild Mann" in unserem Kulturkreis nicht ausschließlich Vorteile hat. Weil dieses Leitbild die letzten Jahrzehnte bröckelte, war "der Mann" zunehmend verunsichert. Jetzt ist es an der Zeit, durch Selbstreflektion die viralen Rollenerwartungen zu überdenken und die Verunsicherung in einen sicheren Umgang mit neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten zu verwandeln. Denn sonst haben Männer wirklich die Gleichberechtigung verschlafen. Und die toxische Männlichkeit reichert sich in einem Übermaß an.