Lieber Ce,
Geduld ist anscheinend nicht Deine Stärke, und polemikfrei zu schreiben, fällt Dir auch nicht leicht. Nun ja, niemand ist vollkommen.
Also nun zu meinen Methoden. Vorausschicken möchte ich, dass ich nicht erschöpfend schreibe. Es gibt immer noch mehr. Ich erhebe keinen Absolutheitsanspruch.
Grundsätzlich stimme ich dem zu, was Lars schon geschrieben hat: Bücher lesen, von verschiedenen Autoren aus verschiedenen Perspektiven, und sich über eben die Perspektiven und Interessen der Autor*innen informieren. Ein Historiker schreibt anders als ein Potitikwissenschafter, ein Zeitungsjournalist anders als einer, der für eine monatlich erscheinende Zeitschrift schreibt, ein Niederländer sicher anders über sein Land, als ein Ausländer usw. usf.
Sowie mit Niederländern in Kontakt kommen, mit ihnen reden, sie fragen, was man wissen will. Usw. usf. Man kann auch die Niederlande bereisen, eine Zeit lang dort wohnen usw.
Und immer muss ich mir bewusst sein, dass ich perspektiveabhängiges Wissen erhebe, subjektive Meinungen oder auch mögliches objektiv erhobene Daten, aber eben von Teilbereichen.
Auch muss ich mir die Frage stellen: Warum will ich das jetzt wissen? Welches Interesse habe ich daran? Was ist meine Perspektive? Wo habe ich Vorurteile und welche? Wie nehme ich mein Erkenntnisobjekt wahr?Usw. usf.
Das ist so meine allgemeine Methode, wenn ich so ein allgemeines Interesesse habe. Für mehr taugt die von mir formulierte Frage ja auch nicht: Wie sind die Niederländer*innen so drauf?
Für Genaueres muss man die Frage präzisieren. Was will ich genau wissen? Interessieren mich ihre Essgewohnheiten, ihre poltischen Einstellungen, ihre Reisevorlieben, ihr Kunstgeschmack, ihr Gesundheitswesen oder was auch immer.
Ich gehe jetzt mal vom unrealistischen Optimalen aus:
Je nach Spezialinteresse führe ich eine historische, politikwissenschaftliche, ethnologische, soziologische, religionswissenschaftliche oder andere Forschung durch. Jedes Fach hat seinen Methodenkanon, der auch immer wieder diskutiert, erweitert oder auch mal minimiert wird.
Günstig wäre es, wenn ich Niederländisch könnte uns auch andere Sprachen, in denen für meine Fragestellung wichtige Dokumente geschrieben wurden. Dann kann ich diese Dokumente historisch-kritisch untersuchen und einordnen.
Wenn ich etwas über derzeitige Einstellungen von Niederländer*innen zu bestimmten Themen herausfinden will, kann ich qualitative und quantitative Methoden anwenden.
Quantitative Mehoden sind z.B. Fragebögen, mit denen ich eine repräsentative Umfrage machen kann. Dann kann ich z.B. herausfinden, ob in den Niederlanden mehr Gouda oder mehr Edamer gegessen wird. Und auch wieviele der Gaudaesser*innen auch Moselwein mögen, reformiert sind und rechts-liberal wählen.
Was ich damit nicht herausfinden kann, wie diese Dinge zusammenhängen, sondern nur Korrelationen, als gleichzeitiges Auftreten der Merkmale.
Will ich Kausalitäten herausfinden und mehr in die Details gehen, muss ich qualitative Methoden anwenden, also Interviews führen, teilnehmende oder nicht teilnehmende Beobachtung praktizieren. Überall gibt es noch Untermethoden, z.B. verschiedene Interviewtechniken und dann auch Auswertungsmethoden, je nach Erkenntnisinteresse.
Am allerbesten hat man ein Forschungsteam mit Mitarbeiter*innen, die verschiedene Methoden beherrschen (niemand beherrscht alle) und aus verschiedenen Perspektiven an die Sache herangehen. Neulich hörte ich einen Radiobeitrag, in dem es hieß, es sei nicht gut, wenn Wissenschaftler der gleichen Meinung seien, sondern sie müssten miteinander streiten, um sich gegenseitig zu kritisieren und zu korrigieren und so gemeinsam zu einer möglichst objektiven Erkenntnis zu kommen. Ja, das stimmt wohl, aber man darf dann auch nicht um der Rechthaberei streiten, was aber auch vorkommt. Wissenschaftler sind auch nur Menschen, und so mancher ist vor allem Aplhamännchen*weibchen, das sein Revier verteidigt oder auszudehenen bemüht ist.
Du wirst mir bestimmt zustimmen, wenn ich sage, je mehr Methoden jemand beherrscht, je mehr jemand in ein Thema eingearbeitet ist, desto besser ist seine Expertise, dass aber auch die beste Forschungsarbeit oder Veröffentlichung immer nur einen Teilbereich erklären kann und keine vollkommen ist.
Und optimalste Optimum, dass man herausfindet, wie jeder einzelne Niederländer in jedem seiner Lebensbereiche denkt, fühlt, spricht, handelt ist nicht erreichbar. Man kann sich nur mehr oder weniger diesem Ziel annähern und bleibt doch immer noch sehr weit davon entfernt. Und weil ich das weiß, bin ich sehr vorsichtig mit definitiven Urteilen, sondern lasse immer die Möglichkeit offen, dass sich irgendwann noch ganz andere Sichtweisen und Erkenntnisse auftun, als Ergänzung aber auch Korrektur meiner bis dato gewonnenne An- und Einsichten.
Die Niederländer*innen waren jetzt nur ein Beispiel, auf das ich kam, weil ich in letztere Zeit mehrere Fernsehbeiträge über die Niederlande sah, die auch meine Kenntnis des Landes bereicherten. Aber man kann die Niederländer hier auch ersetzen durch Deutsche, Luxemburger, Christen, Muslime, Iraner, Konfuzianer (jeweils *innen) oder welche Menschengruppe auch immer.
Das heißt also, dem WAS IST können wir uns immer nur annähern. Jo spiricht von Fakten. Ein Faktum ist vom Wort her ein Gemachtes. Insofern ist ein Faktum tatsächlich ein Konstrukt. Aber es steht in einem Zusammenhang mit einer Realität außerhalb des Faktums oder Konstrukts, ist aber nicht mit dieser identisch. Wir können immer nur überprüfen, wie weit wir mit einem Faktum oder der Gesamtzahl der Fakten kommen, was wir mit ihnen plausibel erklären können, welche Probleme wir mit ihnen lösen können. Die Plausibilität hängt aber nicht nur von den Fakten ab, sondern auch von unseren Denkgewohnheiten. Und die hängen wiederum von anderen Voraussetzungen ab. Es gibt keine absolute Metaperspektive, von der aus wir die Realtiät unabhängig, objektiv betrachten können, sondern wir sind mittendrinn in dem Gesamtkontext dessen, was wir betrachten, sind also immer Teil des Feldes, auch wenn wir uns um Unvoreingenommenheit und Objektivität bemühen. Diese Mühe ist notwendig, aber ihr gelingt auch immer nur eine Annäherung.
So, lieber Ce, jetzt hast Du eine Ahnung davon, wie ich an ein Thema herangehe, wenn ich darüber etwas erfahren will. Das Durchführen einer eigenen Forschung mit einem Team ist in den meisten Fällen unrealistisch. Aber man kann ja Publikationen lesen, die solche Forschungen vorstellen und erklären. Also das, was ganz oben steht ist für den Durchschnittsmenschen machbar, sofern er lesen kann.
Letztlich bleibt aber die alte Weisheit gültig: All unser Erkennen ist Stückwerk (1. Kor 13,9).
LG!
Micha
PS: Dass ich neben dem Versuch, zu erkennen WAS IST auch Vorstellungen habe, WAS SEIN SOLL ist aber auch richtig. Das nennt man dann "Normativität" oder "Wertbewusstsein". Darüber können wir auch gerne reden.