In diesem Thread wird gerade wieder eine hitzige Aufregungskultur gepflegt, jeder irgendwie aus unterschiedlichen Standpunkten (um das Wort Gesinnung oder gar Ideologie zu vermeiden - jede Haltung ist eine Ideologie, und sei sie noch so gesetzestreu).
Na, dann gebe ich meinen ideologischen Senf auch noch dazu. Oder zumindest einen besonderen Blick aus meinem Standpunkt heraus.
Würde ich mich zur queeren Community zählen, würde ich auf Yoshis Schilderung reagieren:
"Schlimm, schlimm! Die Verrohung der Gesellschaft! Und alle stimmen zu: keiner hilft!"
Ich zähle mich nicht zur queeren Community und blicke da nicht ganz getroffen, aber dennoch betroffen drauf und sage:
"Schlimm, schlimm! Die Täter gehören ausfindig gemacht und entsprechend bestraft. Aber sowas könnte jedem passieren. Wo viele Menschen leben, gibt es viel Reibungsfläche und nicht jeder kann diese Reibungen ertragen."
Ich wiederhole nochmals wesentliche Teile von Yoshis Schilderung und hoffe, mit diesem speziellen Blick die sich echauffierenden Theorien hier im Thread ein wenig vom dem Sich-in-was-Verbeißen abzubringen.
Meine Kollegin erzählte mir, dass sie Zeugin wurde von einer queerfeindlichen Straftat. Sie war mit ihrem Sohn in Frankfurt unterwegs. Bei der U-Bahnstation lief ihnen eine Transfrau entgegen, die torkelte und blutverschmiert war. Keiner der Passanten half der jungen Frau und nur meine Kollegin ging zu ihr hin. Die Transfrau trug ein Kleid, eine Perücke und hatte lange künstliche Nägel, die teilweise abgebrochen waren. Sie konnte ihre Augen nicht öffnen und roch ziemlich streng nach Pfefferspray.
Meiner Kollegin erzählte sie, dass sie tätlich angegriffen wurde und sich verteidigte, indem sie mit ihren Nägeln dem Täter ins Gesicht kratzte, worauf die Nägel abbrachen und nun bluteten. Sie konnte nichts sehen und wurde von meiner Kollegin und ihrem Sohn in Sicherheit gebracht. Die beiden Täter, ein Junge und ein Mädchen, die laut meiner Kollegin um die 15, 16 Jahre gewesen sein müssen, kamen nochmal zurück. Meine Kollegin schrie sie an: "Was soll die Scheiße?! Wie kann man nur einen Menschen angreifen?! Seid ihr bescheuert?!" Die beiden Täter rannten weg und keiner der vielen Passanten versuchte sie zu stoppen.
Zwei Mal schildert Yoshi: die Passanten leisten keine Hilfe!
Da könnte man doch die wahre Verrohung der Gesellschaft vermuten, gar die heimliche Zustimmung zur Tat, oder zumindest die fortgeschrittene Gleichgültigkeit.
Ich muss die Passanten mal ein klein bisschen von diesen unterschwelligen Schuldzuweisungen entlasten.
Zum einen: Yoshis Kollegin war nicht Zeugin der Tat. Yoshis Kollegin ist nur dem Opfer begegnet.
Dass die Täter noch einmal zurückkehrten, ist ein durchaus interessanter Aspekt. Wie man dies einordnen soll, kann ich nicht sagen. Dennoch macht die Begegnung mit den Tätern die Kollegin von Yoshi noch immer nicht zu einer Augenzeugin der eigentlichen Tat.
Was während der Tat mit den Passanten los war, können wir alle nicht sagen. Darüber können wir nur spekulieren. Doch wird das uns kaum was bringen. Dass während der Tat keiner der Passanten eingeschritten ist, erscheint zwar tragisch, können wir aber nicht beurteilen.
Wir wissen auch nicht, was genau unter "tätlich angegriffen" zu verstehen ist und wie sich die Tat insgesamt hochgeschaukelt hat. Auch ist von Pfefferspray die Rede. Wer hat gegen wen dieses eingesetzt? Auch das wissen wir nicht. Wobei mir persönlich fast plausibler erscheint, dass queere Personen vorsorglich Pfefferspray griffbereit bei sich führen als zwei dahergelaufene irgendwelche Teenies. Ist aber nur eine Vermutung, kann auch genau anders sein.
Ich denke zum Tatzeitpunkt an die Passanten. Gleichgültigkeit? Zustimmung? Haben die überhaupt mitbekommen, was da abging?
Wie oft laufen wir in belebten Passagen und bekommen am Rande irgendeinen lautstarken Streit mit oder Lautäusserungen, die wir nicht so richtig zuordnen können - oder wollen, weil wir z.B. gerade selber in Eile sind, oder in Gedanken, oder denken: "Da, der Abschaum der Gesellschaft kann sich wieder mal nicht benehmen", wir aber selber vielleicht vor innerem Ekel uns mit diesem lauten Gedöns nicht weiter auseinandersetzen wollen. Irgendwo quäken immer irgendwelche Penner, Asoziale oder Bahnhofsgestalten rum. Achten wir da auf jede lautstarke Situation?
Also ich möchte "die Passanten" eher mal von potentiellen Schuldzuweisungen freisprechen, denn man kann sich im Alltag nicht um alles kümmern. Falls wer allerdings es wirklich mit voller Auffassungsgabe mitbekommen haben sollte, dann ist dies freilich verwerflich, wenn er ohne Reaktion von dannen gezogen ist.
Nun zur Situation nach der Tat. Die Tat war vollendet und die Täter irgendwie nicht mehr beim Opfer. Begegnet man nun als Passant den Tätern, so wird man nicht ahnen können, dass sie gerade eine abscheuungswürdige Tat vollzogen haben.
Begegnet man dem Opfer, gilt zunächst das ähnliche wie beim zuvor gesagten: Wie oft hängen in öffentlichen Passagen, speziell auch Bahnhöfen, die unterschiedlichsten Personen umher und kann deren Situation, will deren Situation nicht einordnen. Abhängige, Obdachlose, Verwahrloste, Besoffene, Traurige, Nachdenkliche, irgendwie... hier, da und überall... rumliegend, an die Wand kauernd, in sich gesunken... Nimmt man bei der Vielzahl dieser "Gestalten" wirklich jedesmal ernsthaft wahr, wenn wirklich Not am Mann bzw. an der Frau ist? Ich denke, es spricht nicht für die allgemeine Gleichgültigkeit, wenn niemand der vielen Passanten auf die Notlage des Opfers reagiert. Und es hat ja jemand von den vielen Passanten reagiert: Die Kollegin von Yoshi und ihr Sohn. Sie haben die akute Notlage des Opfers erkannt.
Dritter Aspekt: Die Täter kamen zurück - warum auch immer - und Yoshis Kollegin reagiert verständlich verzweifelt. Für die oder viele Passanten auch sicherlich wieder eine Situation, wo auf ein lautstarkes Grüppchen im Bahnhofsbereich nicht gesondert geachtet wird. Vielleicht sind viele auch einfach nur zu weit entfernt, um die Worte in Gesamtzusammenhang wahrzunehmen oder Beachtung zu schenken.
Dann: die Täter rennen weg. Wer als Passant im Bahnhofsbereich Perosnen laufen sieht, denkt eher, da will jemand noch seinen Zug, Bus, Anschluss kriegen, als dass da jemand nach einer Tat wegläuft. Wie oft ist man selber im Laufschritt unterwegs, um größere Unanehmlichkeiten, Wartezeiten und so, bei seinem Weg zu vermeiden?
Also, "den Passanten" in Gemeinschaft muss ich generell eher eine Entschuldung zusprechen, als sie generell zu beklagen.
Dass keiner der vielen Passanten reagiert hat, macht betroffen, ist aber durchaus erklärbar.
Und Yoshis Kollegin samt Sohn haben ja reagiert und gehandelt. Wenigstens also zwei.