Klare Begriffsbildungen haben in manchen spachlichen Operationen ihre Notwendigkeit, in anderen können sie aber auch unnötig einengen. Da ist Ambiguität das Zauberwort.
Klar! Für bestimmte Spielchen braucht man das.
Ich stolpere über Deine Wörter "rational" und "Normabweichung". Ersteres ist für Dich was gutes, zweiteres was schlechtes. Oder? .
Ich weiß, moralische Bewertungen sind Dir sehr wichtig. Ich sehe dagegen nicht die Notwendigkeit diesen Begriffen eine eindeutige moralische Zuordnung zu geben.
Rationalität hat viele gute Seiten, aber auch ein paar Schwächen. In Bezug auf den Männerrock ist sie sicherlich nützlich.
Ob eine Normabweichung gut oder schlecht ist, hängt davon ab, ob die Norm gut oder schlecht ist.
Ich hoffe, das genügt als Antwort.
Gruß,
Jo
Logisch, Jo!
"Norm" ist ja auch ein zumindest zweideutiges, aber sicher mehrdeutiges Wort. Ich hatte mal einen Autoaufkleber auf dem stand: "Warum normal sein?". Einem Kollegen von mir war es peinlich, mit mir in diesem Auto mit diesem Aufkleber gesehen zu werden, wenn wir durch sein Dorf fuhren. "Normal sein" bedeutete für ihn "richtig sein, korrekt sein, den Vorschriften entsprechen" usw. Für mich bedeutete es "durchschnittlich sein, nicht aus der Masse heraus ragen" usw. Eine Normabweichung war für ihn also was schlechtes, für mich was neutrales bis gutes. Diese Erlebnisse habe ich im Hinterkopf, wenn ich das Wort "Normabweichung" lese oder höre.
Die Norm in Bezug auf Geschlechtlichkeit ist im Sinn von Durchschnitt und Masse eine cisgender Identutät und eine heterosexuelle Orientierung. Im Bezug auf Moral ist das meines Erachtens weder gut noch schlecht. Insofern ist auch eine Normabweichung weder gut noch schlecht. Ginge es nur darum, Nachkommen zu erzeugen, wäre die Norm eindeutig gut und die Abweichung eindeutig schlecht. Aber geht es nur darum? Geht es um die Dikatur der Gene, deren Handlanger die Lebewesen in ihrem jeweiigen Phänotyp sind. Angesichts der Überbevölkerung der Erde wäre es unvernünftig, Lebensweisen, die keine Nachkommen mit sich bringen, als schlecht zu bewerten. Das trifft für zölibatäre Lebensweisen genau so zu wie für solche, in denen Menschen sexuell aktiv sind, aber keine Nachkommen hervorbringen. Die Norm ist hier also auf keinen Fall alleine gut. So einfach ist es nicht.
Nun ist es aber in unserer Kultur so, dass queere Lebensformen in Bezug auf Geschlechtigkeit keine Tradition im Mainstream haben, sondern - wie Du es ja geschrieben hast - Normabweichungen sind. Sind sie deshalb per se schlecht? Nein, denn siehe oben.
Wenn jemand eine Lebensweise pflegt, die nicht per se schlecht ist, sollte man sie trotzdem diskriminierend behandeln, in dem man es für sehr wichtig hält, nicht dazu gerechnet zu werden? Wie im anderen Posting gesagt: Ich halte es nicht für eine Distanzierung, wenn man sagt, dass man nicht zu dieser Gruppe gehört. Was anderes ist es, wenn man sagt, man möchte nicht mit dieser Gruppe in Zusammenhang gebracht werden. Wenn es also nicht nur so ist, dass man eine Zuordnung zu dieser Gruppe als sachlich falsch bewertet, sondern als unangenehm, als ehrenrührg, als Rufmord usw.
Es gab mal eine Zeit im Römischen Reich, da war es eine Normabweichung, ein Christ zu sein, und unter Umständen war es lebensgefährlich, dazu gerechnet zu werden. Und es gab mal eine Zeit im Deutschen Reich, da war es eine ebenso lebensgefährliche Normabweichung, für einen Juden, einen Zeugen Jehovas, einen Sinti oder Roma, einen Homosexuellen oder einen Kommunisten gehalten zu werden. Eine solche Lebensgefahr besteht hier und heute nicht, wenn man für einen Queer gehalten wird. Ist also auch keine besondere Heldentat, sich als ein Queer zu outen. Aber dennoch erfordert es Mut, da eben dennoch eine Normabweichung, wenn auch nicht illegal. Für Queers oder andere legale Normabweichungen einzutreten, also für ihr Recht so zu sein und für ihre Akzeptanz beim Durchschnittsbürger, ist meines erachtens eine vernünftige Haltung. Sie schaden niemandem, sie leben ihr Leben, sie bereichern die Gesellschaft wie andere nicht schädliche Lebensweisen auch. Es ist keine Heldentat, den normabweichenden Menschen den Rücken zu stärken, aber dennoch immer noch ein wenig Mut. Zu sagen, mir ist es genau so egal, für queer gehalten zu werden wie für einen Schotten, Köbes oder Buddhisten gehalten zu werden oder einen Christen oder Juden oder Sinti oder Kommunisten oder Zeugen Jehovas, erfordert je nach Situation immer noch etwas Mut, auch wenn es nicht lebensgefährlich ist. Damit es auch in Zukunft nicht lebensgefährlich sein wird, ist es aber notwendig, eine allgemeine Akzeptanz dieser Lebensweisen, Identitäten und Überzeugungen zu erreichen. Das ist schwierig, da hast Du recht. Aber ist es deswegen falsch, nur weil es schwierig ist?
LG, Micha