Hallo Michael!
Was meinst du mit "Es enstanden ganze Religionssysteme mit komplizierten Lehren, die uns den Weg der Befreiung weisen wollen"? In meinen Augen ist Religion keine Befreiung, sondern vergleichbar mit z.b. Einer Politischen Partei mit klar definierten Zielen.
Für mich ist Befreiung etwas sehr persönliches. Ich erstrebe für mich die Möglichkeit mich von allem zu Befreien, aber trotzdem brauche ich ja irgend etwas, was den Sinn des Lebens für mich ausmacht. Ich brauche also auch Anhaftungen die ich persönlich schön und gut finde, zumindest für einen gewissen Zeitraum. Wenn ich an eine bestimmte Religion glauben möchte, dann nicht weil sie mich befreit, sondern weil sie meine Ansichten zum Leben teilt. Ist dies nicht mehr der Fall, sollte ich für mich persönlich erkennen mich von dieser Religion zu lösen. Vor allem sollte es überhaupt erst möglich sein, ohne dass man "sündigen" muss. Etwa so, wie man z.b. auch ein Arbeitsverhältnis beenden kann.
Freiheit bedeutet für mich also Wahlmöglichkeit mich für etwas zu entscheiden. Freiheit bedeutet also nicht von allem frei zu sein. Bin ich mit etwas nicht einverstanden besteht meine Freiheit nicht darin das zu verbieten, sondern darin, mich von diesem zu lösen.
Liebe grüße Harry
Lieber Harry,
die einzelnen Religionen mögen so etwas wie Parteien sein, aber Religion ist eher sowas wie Politik. Politik ist ja nicht auf einzelne Parteien beschränkt. Politik hat ganz unanbhängig von der Partei die Aufgabe, das Miteinanderleben der Menschen zu regeln. Dafür haben wir Menschen vor langer Zeit Politik erfunden. Darüber, wie dieses Regeln es Zusammenlebens am besten vor sich gehen sollten, waren sich die Menschen uneins und schufen miteinander kunkurrierende Partein, sobald sie die Freiheit dafür hatten. Wo nur einer bestimmt, wo es lang geht, also in einer Diktatur, gibt es keine Parteien, oder nur pro forma.
Mit Religion ist es ähnlich: Sie hat die Aufgabe, uns Menschen zu ermöglichen, in Übereinstimmung mit höchsten Werten und grundlegendster Wirklichkeit zu leben. Das geschah zunächst vor allem kollektiv, als die Menschen sich noch in erster Linie als Mitglieder von kleinen Kollektiven verstanden. Mit zunehmender Individualisierung (sukzessive schon seit dem Neolithikum, ganz deutlich seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, noch deutlicher in der unserer heutigen Moderne) konzentrierte sich eine Elite von Denkern, Meditierern, Propheten usw. auf das Individuum. Das Dasein in der Welt wurde als letztlich unbefriedigend wahrgenommen und die Ursache in einem falschen Verhältnis des Menschen zu grundlegenden Wirklichkeit gesehen. Diese falsche Verhältnis nennen Christen "Sünde", Buddhisten "Samsara" und andere wieder anders.
Das Problem ist nämlich, dass wir Menschen aus früheren Evolutionsperioden Verhaltensweisen mitbringen, die uns als Tiere sehr gut überleben lassen, solange wir auch nur die Macht von Tieren haben. Unsere Macht ist aber gewachsen. Heute könnten wir die Welt vernichten, wenn wir wollten. Zugleich empfinden sich viele Menschen als verloren in einer Welt, in der sie Entscheidungen treffen müssen. Sie würden sich wohler fühlen, wenn sie einfach ohne nachzudenken, instinktiv leben könnten. So schufen Menschen Routinen, die ihnen die Last des Entscheidenmüssens zwischen richtig und falsch, zwischen gut und böse, abnahmen. Aber das Problem war dadurch nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.
Menschen wie Siddhartha, der Erwachte, Jesus, der Gesalbte, Muhammad, der Gesandte, haben das Problem erkannt und auch Lösungen entwickelt, wie wir Menschen mit der grundlegenden Wirklichkeit (Gesetz, Ordnung, Lehre, Gott, ...) in Übereinstimmung leben können und so das falsche Verhältnis in ein richtiges Verhältnis überführen können. Das ist das, was ich mit Befreiung meine.
In dem schönen, biblischen Mythos vom Sündenfall wird es eigentlich deutlich: Die Menschen im eigentlich noch tierisch-unschuldigen Zusand lebten in Harmonie mit sich und dem Absoluten. Dann aßen sie vom Baum der Erkenntnis, erkannten sich als getrennte Wesen, womit die menschliche Entwicklung oder eigentlich die Menschwerdung ihren Anfang nahm. Zugleich wurde die Selbstverständlichkeit von richtigen Verhaltensweisen unmöglich. Entscheidungen mussten getroffen werden. Und die waren oft falsch.
Nun können wir nicht anders: Wir sind gezwungen, Menschen zu sein. Wir sind keine Tiere, keine Engel, sondern Menschen mit eben diesem Dilemma, uns entscheiden zu müssen und dabei Fehler machen zu können, die uns ins Chaos stürzen. Tierischer Egoismus bei Tieren ist relativ ungefährlich, menschlicher Egoismus kann fatal für ganze Völker und Ökosysteme sein und war und und ist es viel zu oft.
Befreiung meint, einen Weg zu finden, mit unserem tierischen Erbe und der menschlichen Macht umgehen zu können, ohne Schaden anzurichten.
Darin sehe ich den ursprünglichen Sinn von Religion. (Es gibt noch mehr wichtige Facetten, aber in bezug auf Ethik ist das die wichtigste. Auch sehr zentral wichtig ist der Umgang mit dem Bewusstsein unserer Sterblichkeit, das Tiere so auch nicht haben. Das ist im Sündenfall-Mythos auch thematisiert, in dem es heißt, die Menschen wurden sterbich, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden.)
Dass Menschen in den Religionen oft das Gegenteil von diesem ursprünglichen Sinn taten, ist Fakt. Genau wie Menschen, die Politik betrieben, dem Miteinanderleben der Menschen oft eher schadeten als ihm zu nützen. Das ändert aber nichts am eigentlichen Sinn von Religion.
Ist das so verständlich oder eher Kauderwelsch?
LG!
Michael
PS: Ich will doch auch nochmal auf die Sache mit dem Bewusstsein der Sterblichkeit eingehen. Das hat nämlich mit der Befreiung, die ich meine, auch sehr viel zu tun. Tiere sind auch sterblich, wissen das aber nicht. Sie leben quasi noch im Paradies, mythisch gesprochen. Wir Menschen aber wissen es, und das lässt uns nicht kalt. Die meisten Menschen wären lieber unsterblich. Damit muss man also auch umgehen können, und solange wir es nciht können, sind wir unzufrieden. Der Gedanke an die Unausweichlichkeit des eigenen Endes quält uns. So haben wir Menschen in den Religionen und Philosophien verschiedene Modelle entwickelt, die Sterblichkeit zu akzeptieren und doch unseren Wunsch nach Unsterblichkeit ernst zu nehmen. Die vielen verschiedenen Jenseitsvorstellungen zeugen ja davon. Ziel ist es, angesichts des Todes nicht zu verzweifeln, sondern gleichmütig oder gar freudig den Tod in Kauf zu nehmen. Wer das erreicht hat, ist frei von Todesangst.
Jetzt denken wir das mal zusammen: Freiheit von Todesangst und Freiheit von schädlichem Egoismus. Das ist die Befreiung, die ich meine, und die Religion und/oder Philosophie bringen kann (nicht muss, denn es hängt dann ja doch davon ab, was wir draus machen).
LG, Michael