Seit ein paar Monaten habe ich meine Strategie Röcke und vor allem Kleider zu tragen grundlegend geändert; ich bediene mich mit Ausnahme meiner Arbeit und ein paar kleinen Einschränkungen frei nach Gusto aus meinem Kleiderschrank: Mal Rock mal Hose mal Kleid.
Die Salamitechnik die ich über Jahrzehnte vor allem zu Hause angewandt habe, habe ich über Bord geworfen.
Ich habe in Rock und Kleid mit Freunden Urlaub an der Ostsee gemacht, war shoppen, auf ein Bierchen bei den Nachbarn im luftigen Sommerkleid, und mache mir gerade keine Gedanken mehr, wer wann von den Freunden meiner Jungs und deren Eltern in der Tür steht.
Ich habe gerade ein paar neuer Kleider bestellt und nicht erst wie früher heimlich anprobiert, um mich zu entscheiden und dann Jahre vergehen zu lassen, bis die Stücke das Licht der Öffentlichkeit sehen, bzw. sie meine Frau zu Gesicht bekommt. Nein, ich habe sie ausgepackt, anprobiert und gleich meiner Frau zur Beurteilung gezeigt (sofern sie gepasst haben).
Alles ist gerade so, wie ich es mir seit Jahrzehnten gewünscht habe: normal.
Aber, ich wundere mich. Es scheint niemand zu bemerken, keinen zu interessieren, es gibt keine Bemerkungen, keine Kritik, kein Kompliment und nicht mal erkennbare Verwunderung.
Zumindest in meiner Anwesenheit - auch wenn ich es zum
Dorfgespräch geschafft habe.
Manchmal ist das, was sich gerade tut für mich schon etwas befremdlich, weit von dem entfernt, was man immer erwartet, oder befürchtet hat, aber auch ein Stück von dem entfernt, was hier manchmal berichtet wird.
Ich erscheine unsichtbar, oder bin so abgestumpft gegen Reaktionen meiner Mitmenschen, dass ich sie nicht bemerke?
Oder liegt es daran, dass ich mich hauptsächlich im Umfeld von Menschen bewege, die mich schon lange kenne, für die ein Kleid an mir nichts besonderes mehr ist? Und liegt es daran, dass die anderen zufälligen Begegnungen auf der Straße zu kurz und zu distanziert sind, um überhaupt zum Erkennen oder einer Reaktion zu führen?
Manchmal habe ich das Gefühl in einer Parallelwelt zu leben.
Trotz meiner Erfahrungen jetzt bin ich mir trotzdem nicht sicher, ob die ganze Situation nicht plötzlich wieder kippt, ich die alten Zweifel und Bedenken wiederbelebe oder/und sich die Reaktionen der Mitmenschen ändern.
Für mich (vielleicht auch für andere) ergibt Sommer, Sonne und Wärme eine starke logische Verknüpfung zu einröhriger Bekleidung - im Winter sieht das anders aus.
Jedenfalls habe ich seit kurzem die Schranke im Kopf überwunden, die mich seit 30 Jahren (außer in den Ausnahmefällen in denen ich stärker war ) gehindert hat, mich zu kleiden wie ich will. Die noch bestehenden Einschränkungen sind mehr auf Logik, denn auf diffuser Angst begründet - sie bleiben, solange für mich logisch, bestehen - stören mich aber auch nicht wirklich.
Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass meine alten Zweifel plötzlich wiederkommen.
Cephalus