Schade, Micha,
dass Du voraussichtlich erstmal nicht so schnell antworten kannst.
Denn Deine Anmerkung ist mit Sicherheit nicht von der Hand zu weisen, aber dennoch hätte es mich interessiert, wie Du für Dich den Gedankenfaden weiterspannst hin zu dem Kern der Fragen, die Matthias uns mit auf den Weg gegeben hat.
Ich möchte jetzt hier besonders zu den beiden folgenden Fragen mal mich gedanklich ein wenig austoben:
Warum ordnen sich Männer immer wieder in gleiche Normen bei der Bekleidung ein?
Warum ordnen sich Frauen nicht so sehr in Normen der Bekleidung ein?
Die einen finden es zum Kotzen, die anderen sagen, das war schon immer so.
Manche von Euch werden sich in Modehistorie sicherlich besser auskennen als ich. Erklärungsversuche, dass 'es' eben nicht 'schon immer so' war, sind mir auch immer wieder hier im Forum oder anderswo begegnet.
Und doch gab es und gibt es fast überall eben diese Unterschiede zwischen der Kleidung von Männern und Frauen. Ausser bei den letzten Hundert noch traditionell erscheinenden Lakandonen in Chiapas/Mexiko, wo beiderlei Geschlecht mehr oder weniger lange weiße Kleider tragen, sind andernorts, egal in welchen Kulturen, heute oder historisch, Unterschiede in der Kleidungsgestaltung zu erkennen - wenn auch längst nicht immer so rigoros wie z.B. im Europa vor ca. 120 Jahren.
Es muss mindestens einen Grund geben, warum das so ist. Ich denke, es gibt eine ganze Reihe von Gründen.
Einen Grund davon hat Micha in den Ring geworfen: Sex. Oder zumindest - ich formuliere es ein wenig um - das Bedürfnis, sich fortzupflanzen oder wenigstens sich darin zu üben.
Hierbei ist es natürlich schon hilfreich, schnell zu erkennen, wer da per se wegen seiner eigenen Orientierung ausscheidet. Die Verwirrung war ja schon groß, als in den 70er Jahren einige Männer anfingen, ihre Haare lang zu tragen, wie man das kurz vorher nur von den Frauen gewöhnt war. Zudem hatten Frauen ja auch immer wieder Hosen an zu dieser Zeit, so konnte eine Verwechslung von weitem oder auch relativ nahe von der Rückenansicht her recht schnell geschehen. Aus ähnlichem Grund war ja in der breiten Gesellschaft die Modeströmung der 80er Jahre ebenso verpönt, als einige Männer anfingen, ihre langen Haare mit Dauerwellen aufzuhübschen.
Ich denke, es ist und war 'schon immer' ein Kernthema, auf einem Blick unterscheiden zu können, ob man es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hatte.
Nicht zuletzt, wenn es hieß: "Frauen und Kinder zuerst", dass es da höchst geächtet war, wenn ein Mann in Frauenklamotten zu einem ihm nicht zugestandenen Recht sich untermogeln wollte.
Oder Kriegsdeserteure, egal in welchem Jahrhundert, die sich in einer Frauenverkleidung ihrer Verantwortung und Pflicht entziehen wollten.
Und ich denke, es wird genau auch die Frage nach Verantwortung oder Pflicht sein, die zur Ausgestaltung geschlechtlich unterschiedlicher Bekleidungsmerkmale, in großem Maße verantwortlich sein wird.
Männern und Frauen, egal in welcher engen oder weit gefassten Perspektive man das betrachten möchte, kommen gesellschaftlich unterschiedliche Aufgaben zu. Und Rollen.
Zwar gibt es auch in Deutschland seit 20 Jahren Soldatinnen; zwar haben Frauen seit etwa hundert Jahren, jedenfalls etlichen Jahrzehnten um die Erlangung von Rechten gekämpft, die ihnen zuvor nicht zugedacht waren; zwar haben nun auch manche Männer den Anspruch, Softie sein zu dürfen oder Kindererziehungszeiten sich einzufordern; zwar wird in den letzten Jahrzehnten an den Rollenzuschreibungen für Mann und Frau herumgeknabbert; zwar wird verstärkt darum geworben, dass es auch Menschen gibt, die sich weder dem einen noch dem anderen so ganz zugehörig fühlen oder anders sind als sie erscheinen; zwar ist all dies ganz sicherlich auch gesamtgesellschaftlich ein unheimlicher Fortschritt,...
...doch stecken die allgegenwärtigen Rollenerwartungen auch heutzutage noch ganz tief drinnen in jedem.
Auch wenn es all jene Abstriche gibt, die ich eben in meinem "zwar"-Block angerissen habe, so wird im allgemeinen noch immer z.B. von einem Mann erwartet, dass er zunächst mal (sofern er nichts anderes verlautbart) sich irgendwann mal mit einer Frau verbindet. Es wird erwartet, dass er zumindest das ebenbürtige, wenn nicht gar bessere Gehalt einspielt. Es wird erwartet, dass er seine Frau/Freundin beschützen kann, wenn ihr zum Beispiel ihre Handtasche gestohlen wird. Es wird erwartet, dass er die mechanisch schweren Tätigkeiten ausführt. Es wird erwartet, dass der Mann jederzeit auf eine Leiter steigen oder sich unters Auto legen kann - und die Reihe der Erwartungen kann man bestimmt noch fortsetzen.
Ein Mann in Stöckelschuhen und engem Bleistiftrock kann dem Handtaschendieb nicht hinterher laufen. Ein Mann im kurzen Flatterrock ist nicht bestens gerüstet, das Rad am Auto zu wechseln oder die Deckenlampe im Flur auszutauschen.
All diese - heute eher banal erscheinenden - Dinge erfordern, dass der Mann jederzeit praktisch ausgerüstet ist. Hemd und Hose sind daher äußerst funktional.
Demgegenüber kann die Frau sich leisten, eher dysfunktionale Kleidung anzulegen, da sie ja ihren rettenden Helden immer an der Seite hat; und wenn nicht, dann springt gerne ein anderer funktional gekleideter Mann ein, um Hilfestellungen zu geben - jedenfalls das, was die Schule nach Knigge sich wünscht.
Wären Mann und Frau in dysfunktionaler Kleidung gehüllt, dann wäre das Paar in allem, was passieren kann, nicht mehr handlungsfähig. Sind beide in High Heels und Bleistiftrock gekleidet, dann könnte der Mann nicht mehr jederzeit mit Tat und Kraft uneingeschränkt seiner Partnerin zur Seite stehen.
Diese eingefleischten Muster (Mann = Beschützer, Frau und Familie = die zu beschützenden) verunmöglichen, dass der Mann seine Zeit mit Fingernägel lackieren, Haarstyling und Aufbügeln von wallenden Gewändern verbringt.
Er schlüpft in Shirt und Hose, schon ist er einsatzbereit. Und weil das so ist, kann die zu Schützende sich in genau diesen Dingen austoben.
Und je höher der soziale, oder besser finanzielle Stand, desto weitreichender kann das die Frau für sich an Anspruch nehmen. Der Mann übrigens dann so ein bisschen auch, denn etliche Dienstleistungen kann man sich ja dann auch einkaufen (oder früher sich Hausbedienstete leisten). Dann trägt auch der Mann edles Tuch. Aber der eingefleischte Radwechsel- und Baum-/Leiterkletter-Reflex hindert auch den betuchten Mann daran, den Glanz seiner Frau zu relativieren, indem er sich ähnlich formenreich aufbrezelt wie seine zum Glanz verpflichtete Gattin.
Kurzum, der Mann als Beschützer und Retter wird einen Teufel tun, diese ihm zugedachte Rolle dadurch zu negieren, dass er seine Funktionalität einschränkt, wie zum Beispiel mit hochhackigen Schuhen.
Ein weiterer gewichtiger Faktor bei geschlechtsbezogener Unterscheidung von Kleidung ist: die Dazugehörigkeit.
Darum fügt sich ein jeder - egal ob Mann oder Frau - relativ selbstverständlich in die Rahmenbedingungen ein, die ihm der jeweilige Zeitgeist zugesteht. Wer allzu weit von den - auch hier wieder: - Erwartungen abweicht, der schließt sich aus, der ist eben nicht mehr dazugehörig. Und auf dem Land sind diese Bande der Dazugehörigkeit noch mal intensiver als in den Städten, wo Nachbarn sich vielleicht noch nicht mal grüßen.
Und mögen Kleidungsmoden früherer Zeiten noch so bequem oder interessant gewesen sein, schon alleine das Bedürfnis, dazu zu gehören, verhindert, dass man sich heute kleidet wie in der Renaissance oder wie die Römer. Schon alleine, 'altmodisch' zu erscheinen, stellt für die meisten eine extrem hohe Hürde dar. Wenn man sich dann noch in 50er Jahre Klamotten hüllt, dann ist man per se schon 'draussen' (aus der Gesellschaft), käme man gar im Gewand eines Martin Luther, dann wäre man ganz unten durch.
Das erklärt auch das, was Gregor wohl meinte, dass es egal wäre, was vor 100 oder 1000 Jahren modemässig gewesen wäre. Das, was zählt ist der Zeitgeist heute, und von dem sollte man sich nicht zu weit entfernen, denn dann ist man nicht mehr dazugehörig.
Und warum erlauben Frauen sich mehr Freiheiten in Sachen Kleidung als Männer? Weil sie es dürfen. Die meisten jungen Frauen interessiert es nicht, dass ihre Urgroßmütter sich ins Zeug gelegt haben, um ihnen nicht zugedachte Rechte sich zu erobern. Dass die Großmütter noch Benachteiligungen in Kauf nehmen mussten, wenn sie in jungen Jahren Hosen tragen wollten. Der Kampf um die Rechte und um Hosen ging parallel einher und das eine symbolisierte zum Teil auch das andere.
Wie schon oft hier von vielen Forenteilnehmern geschrieben, wurde dieser Kampf mit einem gesellschaftlichen Aufstieg verbunden. Während der Kampf des Mannes um das Recht auf Kleidungsfreiheit als ein gesellschaftlicher Abstieg gewertet wird. Nicht zuletzt die Aufgabe der (eingefleischten, aber real betrachtet doch inzwischen eher virtuellen) Beschützerrolle geht damit einher.
Und die Frau, die ihre Rechte verteidigt und weiter einfordert, die changiert ganz selbstverständlich auf der Klaviatur zwischen 'ihren Mann zu stehen' (Hosen, z.B. 'Boyfriend Style') und den aufreizendsten Aufmachungen (High Heels, kurzes Röckchen), so wie (überwiegend) ihr es gerade gefällt - aber das manchmal ja auch nicht völlig frei von Erwartungen anderer.
Und: mal ehrlich, die meisten unter uns wünschten sich genausowenig, dass alle Frauen dieser Welt morgen aufhörten, Röcke und Kleider zu tragen.
So - ich habe jetzt mal meine Gedanken schweifen lassen. Längst ist nicht alles gesagt. Längst sind die Antworten auf die Fragen von Matthias nicht vollständig gefunden.