Lieber Herr Doktor,
die meisten Menschen haben wenig Freude am Entdecken von Neuem, sondern sind grundsätzlich konservativ. Not mag sie hinaus ins Unbekannte treiben und zu Entdeckern und Erfindern machen, aber ohne Not bleiben sie lieber im bequemen Sessel sitzen und halten den Blick aus der Tür für DIE Welt, die sie meinen, zu kennen und zu verstehen.
Abgesehen von materieller Not kennen die meisten Menschen vor allem die Not, von ihresgleichen nicht geachtet und akzeptiert zu werden. Wenn sie dann also die Angst haben, als Männer in Röcken nicht mehr geachtet zu werden, erzeugt das in ihnen Not. Solange sie in Hosen geachtet werden, empfinden Sie keine Not durch den Hosenzwang.
Kleine Kinder sind Entdecker und werden von den Erwachsenen gelobt, wenn sie allmählich die Welt entdecken, die die Erwachsenen ihnen zeigen. Wenn sie aber Dinge entdecken, die die Erwachsenen nicht kennen oder unangeheme Fragen stellen, werden sie nicht gelobt, sondern zurückgepfiffen. So geht es auch Erwachsenen, die querdenken und über die Grenzen, über die andere sich nicht hinaus trauen, einfach so überschreiten. Sie werden nicht gelobt, sondern sind den anderen unheimlich, so wie damals die Hagazussas, die Zaunreiterinnen, die zwischen Dorf und Wald wechselten, bald als Hexen wurdet wurden.
Um diese Massenmänner in die Röcke zu bringen, müssen sie das gefühl bekommen, ohne Hosen nicht mehr geachtet zu werden. Wenn sie das Gefühl hätten, in Röcken höher geachtet zu werden als in Hosen, dann würden sie Röcke tragen. Das Tragegefühl und das Aussehen sind ihnen weit weniger wichtig.
Und lieber Harry,
das was ich da beschreibe ist keine Hinweis darauf, dass Individualität verloren wäre, sondern darauf, dass sie noch nicht richtig entwickelt wurde. Wir Menschen sind - wie die meisten anderen Tierarten auch - Gemeinschaftswesen, die in der Gemeinschaft Schutz und Geborgenheit empfinden. Individualität ist erlaubt, solange sie die Gemeinschaft nicht sprengt. Unsere heutige Gesellschaft hat so viel Individualität wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, ungeachtet der massengesellschaftlichen Vereinheitlichungstendenzen. Zugleich haben wir den geringsten Gemeinschaftssinn, die geringste Solidarität in der Geschichte, was vor allem an der Ideologisierung des Wettbewerbs liegt. Das Ziel muss sein, beides, Individualität und Gemeinschaftssinn weiter zu entwickeln, eben sozialverantworltichen Eigensinn, wie ich das nenne.
LG, Michael