Autor Thema: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft  (Gelesen 6125 mal)

Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« am: 03.05.2017 02:38 »
Ich habe einen Standardversuch in der Marktforschung mit Röcken und 90 Studenten durchgeführt. Hier ist das Ergebnis:

Wie frei sind wir, wenn wir ein Urteil fällen? Sind wir voreingenommen durch soziokulturelle Einflüsse der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind? Prägt uns unsere Umwelt in einer Weise, die sich auch auf unser Urteil gegenüber Männerröcken auswirkt?

Dazu haben wir ein kleines Experiment mit 90 Studenten gemacht. Die Probanden wurden in drei Gruppen aufgeteilt. Der ersten Gruppe wurden Bilder gezeigt mit Männern in Kleidern oder Röcken aus Kollektionen bekannter Modedesigner. Die zweite Gruppe erhielt Bilder mit Männern unterschiedlicher Kulturen in traditioneller Rockbekleidung, wie Inder im Lungi und Indonesier im Sarong. Die letzte Gruppe sah sich eine Mischung von Bildern der ersten beiden Gruppen an, wobei sie zuerst ein traditionelles Outfit sahen dem ein modernes Outfit folgte. Auf einer Skala von 0-100 mussten die Versuchspersonen beurteilen, wie männlich sie die Outfits empfanden.

Die Bilder mit traditionellen Outfits wurden alle mit deutlich über 80 Punkten bewertet. Die Bilder der zweiten Gruppe mit Rockkreationen von Designern wurden durchschnittlich mit 19 Punkten weniger bewertet. Für die Fotos der dritten Gruppe wurde ein Durchschnittswert für die Fotos mit traditionellen Röcken errechnet und ein weiterer für die Designerröcke. Die durchschnittliche Bewertung der traditionellen Röcke entsprach dem Wert der ersten Gruppe, aber der Wert für die Designerröcke lag diesmal 17 Punkte über dem der zweiten Gruppe. Wieso werden die Bilder moderner Rockoutfits als männlicher eingestuft, wenn man sie in Verbindung mit traditioneller Rockbekleidung bringt?

Wir nehmen stark an, dass unsere Meinungen beein-flusst werden von den Standards kultureller Konven-tionen. Weil solche Standards anerkannt sind, werden sie pauschal als positiv eingestuft. Die Probanden der dritten Gruppe wurden bei ihre Urteilsfindung für moderne Männerröcke durch die vorhergehenden Bilder mit traditionellen Varianten daran erinnert, dass Röcke in traditioneller Form bereits anerkannt sind. Diese Information haben sie bei ihrer Bewertung berücksichtigt. Es gibt somit einen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz von Röcken für Männer und gesellschaftlichen Traditionen, der sich für ein Marketing nutzen lässt.

Offline cephalus

  • Team
  • Legende
  • ******
  • Beiträge: 7.500
  • Geschlecht: Männlich
    • muenchengefluester
    • Münchengeflüster
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #1 am: 03.05.2017 08:22 »
Hallo Holger,
ich kenne die Bilder und die Männer nicht, führe ich mir aber jeweils typische Bilder von traditionell gekleideten Männern und von Models vor Augen, entscheidet nicht nur die Kleidung.

Eine objektive Beurteilung würde unterschiedliche Kleidung an den selben Männern bedingen.

Im übrigen sehe ich keine Relevanz in der Wertung der "Männlichkeit".

Akzeptanz, Toleranz oder Ästhetik stehen damit nicht im Zusammenhang, hätten für mich aber eher eine Bedeutung.

VG
Cephalus

Offline MAS

  • Für ein großherziges Forum ohne Ausgrenzung!
  • Legende
  • ******
  • Beiträge: 25.801
  • Geschlecht: Männlich
  • Toleranz ist gut, Respekt ist besser!
    • IFN
  • Pronomen: Unwichtig
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #2 am: 03.05.2017 11:37 »
Neulich wollte ein Rabbi wissen, was es denn mit meiner Mode auf sich habe. Er meinte, mein langer Jeansrock sei vielleicht eine traditionellen Kleidung aus Asien, weil ich einen Worskshop über buddhistische Meditation hielt. Als ich auf den Hinweis auf die Emanzipation der Juden in einem vorangegangenen Vortrag eines anderen Rabbis verwies und von der Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen und Männer verwies und darauf, wie angenehm ein Rock zu tragen ist, war er nicht zu überzeugen. Er meinte, traditionelle Röcke in warmen Ländern seien ja in Ordnung, aber in Europa sei es viel zu kalt für Röcke. Ich glaube aber, ihn störte, dass es kein traditoneller Rock war, sondern ein moderner Rock aus der Damenabteilung.

LG, Micha
Wer das Leben ernst nimmt, muss auch über sich lachen können.

ACHTUNG! Ich verbiete ausdrücklich, Texte oder Bilder, die ich hier einstelle, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis auf andere Seiten zu kopieren!

Offline ChrisBB

  • Hero
  • ****
  • Beiträge: 1.182
  • Geschlecht: Männlich
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #3 am: 03.05.2017 13:33 »
Hallo!

Vor einigen Jahren hat mich in Stuttgart in der S-Bahnstation ein älteres Ehepaar angesprochen, und wollte wissen, ob die eben einfahrende die richtige S-Bahn für sie sei.
Als ich es ihnen bestätigt hatte, fragte ich sie, warum sie gerade mich (und nicht einen von weiteren 50 Umstehenden) gefragt haben.
Die Antwort war: "Sie sehen aus wie ein Pfarrer, so vertrauenswürdig."
Ich hatte einen langen schwarzen Rock ohne viele Ornamente an (den vom Avatar).

Gruß,
ChrisBB


Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #4 am: 03.05.2017 18:28 »
Okay Cephalus,

dann lass uns mal an dieser Stelle einen Diskurs starten.

Vorausschicken möchte ich vier Dinge:
1.   Der Test ist ein standardisiertes Verfahren aus der kognitiven Psychologie zur Priming-Messung, das häufig zur Marktforschung verwendet wird und dass ich ohne Änderungen des Versuchsaufbaus übernommen habe. Es wurde lediglich das zu bewertende Objekt gegen einen Rock oder Kleid ausgetauscht. Priming sind all die Dinge, die uns beeinflussen, wenn wir Entscheidungen treffen
2.   Der Rock für Männer als Teil alter Traditionen ist gesellschaftlich weitgehend anerkannt. Wir kennen das vom schottischen Kilt und Untersuchungen bestätigen das.
3.   Die Modefotos von Männerröcken bekannter Designer und Labels (Gaultier, Jacobs, H&M) waren bunt gemischt und nach „Straßentauglichkeit“ ausgewählt. Avantgardistisches war nicht dabei.
4.   Was männlich ist, wurde absichtlich nicht vordefiniert. Jeder Proband darf das unterschiedlich sehen, denn was männlich ist liegt ganz im Auge des Betrachters, so wie auch in der Gesellschaft sehr unterschiedliche und subjektive Vorstellungen bestehen. Interessant ist nur der Bevölkerungsquerschnitt der alle Sichtweisen berücksichtigt.

Wenn es anerkannte Rocktraditionen gibt, dann ist es nicht verwunderlich, dass die besser abschneiden, als zeitgenössische Kreationen. Das bestätigt der Test, und das führen viele Kiltträger auch als Grund an, warum sie Kilte gegenüber Damenröcken bevorzugen. Unser Test liegt hier ganz auf der Linie anderer Studien.

Und wir liegen auch was den Vergleich der Designerfotos aus Gruppe 3 mit den Designerfotos aus Gruppe 1 anbelangt in etwa bei den zu erwartenden Werten anderer Primingstudien.

Das Besondere ist, dass in Gruppe 3 die gleichen Designerfotos wie aus Gruppe 1 plötzlich anders bewertet werden, nur weil vorher ein zusätzliches Foto mit traditioneller Männerrockkombination gezeigt wurde. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum wird ein gleiches Foto nicht gleich bewertet? Primingstudien sagen hier, dass die Entscheidung beeinflusst wurde durch die vorhergehende Aktion.

Und ich möchte hinzufügen, dass die Beurteilung eben nicht reine Geschmackssache ist und das eine Beurteilung eben nicht eine unabhängige und objektive Entscheidung widerspiegelt. Was die Versuchspersonen glauben objektiv entschieden zu haben, war tatsächlich beeinflusst von gesellschaftlichen Konventionen, an die wir mit dem zweiten Foto erinnert haben.

LG

Holger


Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #5 am: 03.05.2017 18:46 »
Micha,
auch dein Beispiel ist bezeichnend. Als ich einst bei einem Arzt ins Wartezimmer kam, wurde reichlich geglotzt ueber meinen langen schwarzen Rock und Poloshirt. Als wenig spaeter ein Moench reinkam mit langem Rock und Poloshirt in den Farben seines Klosters hat niemand geglotzt. Der Massstab zur Bewertung der Moenchskleidung war eben ein anderer.

Offline MAS

  • Für ein großherziges Forum ohne Ausgrenzung!
  • Legende
  • ******
  • Beiträge: 25.801
  • Geschlecht: Männlich
  • Toleranz ist gut, Respekt ist besser!
    • IFN
  • Pronomen: Unwichtig
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #6 am: 03.05.2017 23:29 »
Micha,
auch dein Beispiel ist bezeichnend. Als ich einst bei einem Arzt ins Wartezimmer kam, wurde reichlich geglotzt ueber meinen langen schwarzen Rock und Poloshirt. Als wenig spaeter ein Moench reinkam mit langem Rock und Poloshirt in den Farben seines Klosters hat niemand geglotzt. Der Massstab zur Bewertung der Moenchskleidung war eben ein anderer.

Ja, Holger, Tradition hat trotz aller Fortschrittsideologie unserer modernen Gesellschaft immer noch einen hohen Stellenwert. Sie gibt Stabilität, was für uns als nahezu instinktfreie kognitive Wesen eine wichtige Funktion ist.

Du schreibst, es sei keine reine Geschmacksache und meinst damit sicher, dass es nicht rein individuell und situativ ist. Sozial-konstruktivistisch gesehen, erlernen wir unsere Geschmäcker aber eben in Abhängkgeit von Konventionen, selbt wenn wir uns dann gegen die Konventionen entscheiden.

LG, Micha

 
Wer das Leben ernst nimmt, muss auch über sich lachen können.

ACHTUNG! Ich verbiete ausdrücklich, Texte oder Bilder, die ich hier einstelle, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis auf andere Seiten zu kopieren!

Offline Asterix

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.926
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #7 am: 04.05.2017 04:45 »
Ist im Prinzip schon lange meine Beobachtung. Du hast es statistisch belegt. Gruß
"Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen" (Giovanni Bosco)

Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #8 am: 04.05.2017 16:42 »
Lieber Micha,

unsere Unabhängigkeit und individuelle Freiheit wird beschränkt durch Prägungen durch Erziehung und Umwelt. Wenn wir mit unseren Prägungen glücklich sind, nehmen wir deren Einfluss nicht bewusst wahr. Wir glauben dann gerne an endlose Freiheit, die es aber tatsächlich nicht gibt. Wir sind immer mehr oder weniger das Ergebnis äußerer Einflüsse.

Ich habe mal einen sehr religiösen Muslim aus Nigeria getroffen, der mir erzählte er glaube an den Islam, weil das die beste Religion sei. Mein Einwand, er habe nicht wirklich die beste Religion ausgewählt, sondern sei zufällig in einen religiösen Kulturraum hineingeboren, der glücklicherweise seinen inneren Bedürfnissen entgegenkomme, gefiel ihm nicht.

Für uns im Forum ist wichtig, dass Widerstand gegen den Männerrock hauptsächlich die Folge unserer Prägungen durch die Gesellschaft sind. Die sind intuitiv verankert und deswegen mit guten Argumenten und Logik nicht einfach aus der Welt zu schaffen. Hilfreich ist der Umweg duch die Verknüpfung mit Männerrocktraditionen.


Offline Barefoot-Joe

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.601
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #9 am: 04.05.2017 20:26 »
Hallo Holger,

Zitat
unsere Unabhängigkeit und individuelle Freiheit wird beschränkt durch Prägungen durch Erziehung und Umwelt.

Erziehung und Umwelt definieren ein bestimmtes Rollenmodell für uns und wir lernen, dass nur dieses eine Modell richtig und alles außerhalb falsch ist. Das ist ein goldener Käfig, der uns da angeboten wird und in den wir uns freiwillig setzen und ihn so lange toll finden, solange wir unseren Blick nur auf Dinge innerhalb des Käfigs richten.

Der Käfig ist aber nicht schuld daran, dass wir uns hineinsetzen. Wir selbst entscheiden uns für ihn, weil er Stabilität und Sicherheit verspricht. Wir wählen die Unfreiheit selbst... aber wir haben es auch in der Hand, den Käfig zu verlassen. :)
Ich bin ein Mensch mit Irritationshintergrund.

Normality is a paved road: it’s comfortable to walk, but no flowers grow. - Vincent van Gogh

Offline Jo 7353

  • Hero
  • ****
  • Beiträge: 1.029
  • Geschlecht: Männlich
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #10 am: 04.05.2017 22:26 »
Es ist beachtenswert, daß isoliert betrachtet die traditionellen Männerröcke ganz anders bewertet wurde als die Designerröcke. Irgend etwas scheinen letztere wohl falsch gemacht zu haben. Vielleicht haben sie ihren Entwurf unbewußt zu sehr von der Frau her gedacht, weil sie Röcke fast nur an Frauen sehen. Diese Prägung war vielleicht beim Entstehen der traditionellen Männerröcke nicht vorhanden, und deshalb sind sie besser auf den Männlichen Körper angepaßt, was die Bewerter unbewußt spüren. Laufstegmode finde ich, nebenbei bemerkt, meistens einfach nur häßlich.

Die Verbesserung der Werte der Designerröcke bei der Durchmischung kann dem Versuch, im eigenen Urteil konsistent zu sein, geschuldet sein, nach dem Motto: "Nun habe ich einen Rock als männertauglich erklärt, dann kann ich doch nicht Röcke grundsätzlich als nicht männertauglich erklären."

Gruß,
Jo
Der Rock ist kein Geschlechtsmerkmal.

Offline Holger Haehle

  • Routinier
  • *****
  • Beiträge: 2.748
  • Geschlecht: Männlich
  • Es gibt nichts Gutes außer man tut es
    • holger.haehle
    • gender_free_universe/
    • holgamaria666/
    • channel/UChU2l88t1kVgVnqlcipAgqQ
Re: Zur Voreingenommenheit unserer Urteilskraft
« Antwort #11 am: 06.05.2017 17:50 »
Was du beschreibst B.-J.,
kommt dem sehr nahe, was Immanuel Kant als “selbstverschuldete Unmündigkeit” beschrieben hat. Wir werden zum Opfer unserer Bequemlichkeit. Hinter der Bequemlichkeit stehen Gewohnheiten, Prägungen und die Erwartungen unserer Umwelt. Damit zu brechen erfordert Anstrengungen, die wir oft meiden, auch wenn wir von der Notwendigkeit von Änderungen überzeugt sind. Unsere stetig gewachsenen, emotionalen Prägungen lassen sich nicht mal eben mit einem tollen Argument korrigieren. Dafür haben sie sich zu tief verwurzelt. Das ist ja der Grund, warum Therapien so langwierig sind.



 

SMF 2.0.19 | SMF © 2020, Simple Machines | Bedingungen und Regeln

go up