Bist Du denn ein gläubiger Christ, Holger, dass Du Dir diese Fragen stellst, die doch nur innerhalb des christlichen Glaubens von Bedeutung sind?
LG, Micha
Naja Micha, die Dame kann ja recht haben. Immerhin deckten sich ihre Ansichten schon sehr weit mit dem was ich aus meinem Katholischen Umfeld kenne. Aber es irritiert mich, wenn es dann doch keine Einigkeit gibt, obwohl unzählige Experten sich mit der korrekten Interpretation beschäftigen. Theologie ist doch eine Wissenschaft. Gleichwohl gehörte das Lesbenpaar zu einer Kirche, die Gottes Gebot anders liest. Gottes Wort ist doch das eine Wort für alle. Glaube ist doch keine Quantenmechanik, wo mit einer Handlung mehr als ein Ergebnis möglich ist.
Ich bin nicht gerne im Ungewissen. Ich glaube dort, wo ich mangels Wissen keine andere Wahl habe. Und ich mag es, wenn ich etwas nicht mehr glauben muss, wenn ich durch Erkenntnis zu Wissen komme. Mehr Klarheit und eine logische interessensunabhängige und verbindliche Interpretation der Bibeltexte wünsche ich mir.
Ein Gott, der die Liebe selbst ist und sich gleichzeitig an Bekleidungsfragen stört und queere Menschen aus seiner Gemeinschaft ausschließt, ist widersprüchlich. Aber da ist sich die Diakonin mit vielen anderen Christen einig, dass das so in Ordnung ist. Wer hat jetzt recht.
Der Hinweis auf den Neuen Bund ist da schon hilfreich. Aber das AT ignorieren geht doch auch nicht. Da stehen immerhin die 10 Gebote drin. Und Jule, wenn der Herr dein Gott im 11. Gebot nicht will, das du Hand anlegst, dann lass es sein. Wenn es Gott gibt, du es aber nur nicht weißt, dann könnte sich deine Verfehlung rächen. Denn wenn Gott ist, also wahrhaftig ist, dann ist er universell und nicht nur innerhalb des Christentums von Bedeutung. Das hat Konsequenzen auf andere Religionen und Ungläubige.
Lieber Holger,
Du gehtst zu naturwissenschaftlich an den Glauben heran. Wusstest Du, dass überproportional viele Fundamentalisten Naturwissenschaftler oder Ingenieure sind und wenige Geisteswissenschaftler? Weil erstere immer unfehlbare Rechnungen suchen, eindeutig wahre Aussagen, während letztere die Ambiguität bejahen. Lies dazu meine Antwort an Jule.
Theologie ist eine Wissenschaft, die aber einem anderen Wissenschaftsverständnis folgt als die MINT-Fächer. Deswegen wird sie von vielen Fundmanalisten ja abgelehnt, wenn sie historisch-kritische und psychologische und soziologische Forschung betreibt. Letztlich ist immer der Mensch ihr Forschungsobjekt, und Gott oder das Absolute nur mittelbar.
Wenn ich theologisch herausfinden will, wie wir uns verhalten sollen und ob eine religiöse Aussage dazu wahr ist oder nicht, frage ich, welche Funktion die hinter der Aussage liegende Vorstellung erfüllt. Nehmen wir das Beispiel mit der Kopfbedeckung: Sollen wir nun Gott gegenüber unsere Häupter bedecken oder nicht? Es ist ja kein Selbstzweck, barhäuptig in das Gottes- oder Gegetshaus zu gehen oder mit Kopfbedeckung. In der jüdischen Tradition ist es eine Angelegenheit von ganz privater Atmosphäre, barhäuptig zu gehen. Das macht man zu Hause. Es ist da sowas wie Nacktheit am Kopf. Nackt zeigt man sich aber nicht hochrangigen Menschen. Und so auch Gott nicht. Also zieht man seine Kippa an. In der europäisch-christlichen Tradition ist es so, dass Hüte einen hohen Rang symbolisieren. Der Ranghohe lässt seinen Hut an, der evtl. auch noch mit Hoheitsabzeichen versehen ist, der Rangniedere zieht seinen aus Höflichkeit dem Ranghöheren gegenüber. Das kommt auch noch aus der Zeit, als Ritter ihre Helme zogen, um sich erkennbar zu machen. In beiden Fällen geht es also um das Erweisen von Respekt Gott gegenüber. Das hat auch weniger mit jüdich und christlich zu tun als mit südwestasiatisch und europäisch. Muslime und orientalische Christen lassen auch eher eine Kopfbedeckung an, wenn sie beten. Die Christen, sofern sie noch nicht europäiisiert sind.
Genau so kannst Du fragen, welchen Sinn andere Kleiderordnungen haben. Sie sollten die gesellschaftliche Ordnung untermauern. In früheren Gesellschaften, in den Zeiten, in denen die Bibel und andere in den heute großen Religionen als Heilige geltende Schriften geschrieben wurden, herrschten patriarchale Gesellschaftsformen, in denen zudem alles kollektiv geregelt war, was mit Geschlecht zu tun hatte, also auch Liebe, Ehe usw. Die jeweilige Position in der Gesellschaft, also ob männlich oder weiblich, ledig, verheiratet oder verwitwet, niedrig- oder hochrangig, wurde in der Kleidung ausgedrückt. Die Kleiderordnung zu missachten bedeutete, die Gesellschaftsordnung zu missachten, und das bedeutete, die Heilige Ordnung, die Hierarchie, zu missachten.
Wir befinden uns heute und vor allem in Europa aber in einer ganz anderen Gesellschaftsordnung, in der Demokratie, Individualismus, Gleichrangigkeit die Fundamente darstellen (bei aller Unvollkommenheit ihrer konkreten Ausbildung).
Heute ist es so, dass verschiedenen Paradigmen - ein Begriff von dem Physiker Thomas Kuhn, der ihn auf Wissenschaftsgeschichte anwandte, den Hans Küng auf Religionsgeschichte übertragen hat - parallel zueinander existieren. Hier die Definition des Wortes: „Gesamtkonstellation von Überzeugungen, Werten und Verfahrensweisen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft geteilt werden“ (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 2. Aufl. 1976, S. 186).
Hier kannst Du Küngs Paradimenmodell mal angewandt auf das Judentum ansehen:
https://www.global-ethic-now.de/gen-deu/0b_weltethos-und-religionen/0b-pdf/paradigmenwechsel-judentum.pdf, hier auf das Christentum:
https://www.global-ethic-now.de/gen-deu/0b_weltethos-und-religionen/0b-pdf/paradigmenwechsel-christentum.pdf und hier auf den Islam:
https://www.global-ethic-now.de/gen-deu/0b_weltethos-und-religionen/0b-pdf/paradigmenwechsel-islam.pdfMenschen, die verschiedenen Paradigmen innerhalb derselben Religion anhängen, verstehen einander oft weniger, als Menschen, die ähnlichen Paradigmen in verschiedenen Religionen anhängen. Der Dialog zwischen den Paradigmen ist oft schwieriger als der zwischen den Religionen.
Nochmal zur Kleiderordnung: Nehmen wir das Beispiel "islamisches Kopftuch". Islamistinnen versuchen oft, ein Paradigma einer der vergangenen Epochen wiederzubeleben. Sie lesen in Koran und Sunna Hinweise auf die Pflicht, die erotischen Stellen des Körpers zu bedecken und tun das, weil sie meinen, Gott habe das befohlen. Islamistische Männer meinen, die Pflicht zu haben, das zu überwachen und Frauen, die das missachten, zu bestrafen. Musliminnen, das das moderne oder gar nachmoderne Paradigma verinnerlicht haben, fragen, welche Funktion das Kopftuch denn erfüllen solle und kommen historisch-kritisch zu der Meinung (man kann auch "Erkenntnis" sagen), dass das Kopftuch über Jahrhunderte lang, die freie, durch ihre Familie und das Gesetz geschützte Frau auszeichnete, während Slavinnen keines tragen durften und so auch nicht vor Vergewaltigung geschützt waren. Also hatte das Kopftuch die Funktion, die Frau vor männlichen Übergriffen zu schützen. Inserer modernen, säkularen Gesellschaft heute aber erfüllt es diese Funktion nicht mehr. Man ist als Frau eher geschützt, wenn man sich unauffälliger kleidet. Kopftücher fallen aber auf. Somit erfülle man den Rat Gottes, sich so zu kleiden, dass man geschützt ist, eher, wenn man kein Kopftuch trägt.
Versuche mal, so an die religiösen Fragen heranzugehen.
LG, Micha