Autor Thema: Ungewohnte Selbstwahrnehmung  (Gelesen 1201 mal)

Offline Kim70

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Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« am: 04.03.2025 12:54 »
Es ist Karneval und damit die Zeit in der man mal etwas Gewagteres, Ungewohntes ausprobieren kann.

Ich habe die Gelegenheit genutzt, ein Korsett, ein richtig festes, einen ausgestellten Rock, mit Petticoat darunter und feine Higheelsandalen zu tragen. Außerdem wollte ich mal testen, wie sich lange Fingernägel anfühlen.

Insgesamt war ich eindeutig als Mann erkennbar, auch wenn der Rock und das Korsett eine fast perfekte weibliche Silhouette gezaubert haben.
Es sah, nicht nur meiner Meinung nach, sogar richtig gut, nur für einen Mann natürlich ungewohnt aus.

Das Ganze war nicht unbequem, selbst mit den Schuhen konnte ich den Abend lang gut und schmerzfrei laufen, aber alles, was ich trug hat mich mehr oder weniger etwas in meiner Beweglichkeit eingeschränkt, oder permanent meiner Aufmerksamkeit bedurft.

Ich ging konzentriert, habe mich bewusst gesetzt, brauchte eine eigene Technik, um mich zu bücken, oder um manche Dinge zu greifen.

Während ich mich sonst stark, groß, selbstsicher und unangreifbar fühle und mit viel Selbstsicherheit durchs Leben gehe, fühlte ich mich plötzlich schwach, unsicher, anlehnungsbedürftig und angreifbar.

Das kannte ich so noch nicht.
Befremdlich.

Offensichtlich habe ich das auch ausgestrahlt, mehrfach an diesem Abend wurde mir von meinen Begleiterinnen, die sich zum Teil für starke männliche Kostüme entschieden hatten, der Arm zum Einhängen gereicht, die Tür aufgehalten, der Rock geordnet usw.
Es war allerdings, gefühlt, nicht ein witziges Rollenspiel, sondern meist ein automatisches Unterstützen einer schwächeren, zerbrechlicher wirkenden Person.

Teilweise habe ich mich sehr unwohl gefühlt, in meiner Schwäche, aber im nächsten Moment auch wieder sehr wohl.

Als es um den Heimweg ging, hatte ich plötzlich Bedenken mit den Öffentlichen zu fahren, was ich sonst nie habe.
Hin kam ich mit einem Freund, heim dann mit dem Taxi.

Jedenfalls hinterließ mich der Abend nachdenklich, verwirrt, aber mit schönen Erfahrungen.

Macht die Kleidung etwas mit einem selbst?
Macht auch ein schlichter Rock etwas mit dem eigenen Selbstempfinden?

Wie geht es euch, was hat Kleidung für einen Einfluss?

Offline MAS

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #1 am: 04.03.2025 18:10 »
Interessanter Bericht, lieber Kim!

Meines Wissens wurde diese Kleidung gezielt für Frauen entworfen, die nicht körperlich arbeiten mussten und abhängig von Männern bzw. auch der Dienerschaft waren, was Schwäche und hohe gesellschaftliche Stellung zugleich ausdrückte. Das, was Du gefühlt hast, ist also gewollt.

LG, Micha
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Offline Lars

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #2 am: 04.03.2025 18:59 »
Macht die Kleidung etwas mit einem selbst?

Ja, definitiv! Und man macht etwas mit der Kleidung ... man trägt sie angemessen.
Es geht also in beide Richtungen.
Mir wurde schon oft gesagt, ich würde mich viel eleganter bewegen in meinen Rock- oder Kleid-Outfits.
Und in ein, zwei kleineren Situationen habe ich auch schonmal so etwas wie Hilfsbedürftigkeit ausgestrahlt und Beistand bekommen, weil es für die Beteiligten auf den ersten Blick so aussah, daß ich den brauchen würde. Ich wollte dazu auch schon längst mal einen Erfahrungsbericht geschrieben haben, obwohl das sehr seltene Situationen sind.
Was machen Verschwörungstheoretiker?
Die Nachrichten ein paar Jahre eher liefern als das Fernsehen.

Offline hirti

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #3 am: 05.03.2025 08:43 »
Hallo Kim70!

Ich finde das ein sehr spannendes Erlebnis und einen sehr spannenden Bericht von dir!

Kleidung macht auf jeden Fall etwas mit einem!
Damit meine ich jetzt nicht die Jeans und das T-Shirt das jeder jeden Tag trägt und das wir völlig gewohnt sind, sondern die besondere Kleidung über die wir uns hier austauschen.
Ich finde, je besonderer das Outfit das wir tragen, desto mehr spannende Gefühle ruft es hervor - vorausgesetzt wir sind offen dafür und haben Lust, sie zuzulassen. Und das haben wir wohl, sonst würden wir sowas ja nicht tragen.
An das Tragen eines "normalen Rockes" habe ich mich mittlerweile gewohnt und nehme ihn nicht mehr so stark wahr. In einem ganz besonderes Outfit wie meinem Abendkleid mit High Heels fühle ich mich aber auch ganz besonders - ich spüre jeden Zentimeter von mir, nehme den Stoff wahr wenn ich darüber streife, spüre die Höhe der Schuhe und genieße jeden Schritt.

Was ich allerdings nicht so wahrnehme wie du, ist dieses schwache, anlehnungsbedürftige Gefühl. Ich fühle mich eher stark und besonders, auch in einem besonderen Outfit.

Außer ich merke unterwegs dass ich beim Outfit daneben gegriffen habe und es nicht zu mir oder nicht zusammen passt, dann fühlt sich's unangenehm an. Auch wenn ich merke, dass mir etwas vom Outfit Probleme bereitet (Absätze zu hoch und ich laufe nicht sicher, Sohle rutschig, Kleid zu eng, Rock zu kurz...), dann ist die Sicherheit schnell dahin.

Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass tief in uns drin Gefühle verborgen sind, die nur in besonderen Situationen zum Vorschein kommen, und bei dir ist das wohl der Fall gewesen. Vielleicht stecken solche Gefühle in vielen Männern? Nur ist die typisch männliche Reaktion wohl eher, sich ganz schnell wieder mit ganz viel Testosteron zu fluten und diese komischen Gefühle beim Schießstand oder im Fitnesstudio wegzuballern oder beim nächsten Wirt bei ein paar Bier auf "vernünftigere Gedanken" zu kommen.

Welcher Mann spricht denn schon über sowas? - Außer wir hier, die wir auf dieser Plattform den seltenen Genuss von diskussionsfreudigen Gleichgesinnten haben?

Was mich nun interessieren würde, wie du nun darüber denkst, Kim70.
Ist es etwas was du als schön empfindest und gern wieder erleben möchtest oder war es so seltsam, dass du dich lieber wieder etwas weniger kleiden und fühlen möchtest?

Ich finde es jedenfalls schön, dass du den Karneval genutzt hast, um so etwas einmal auszuprobieren. Bei mir hat so manches, was ich erstmalig bei dieser Gelegenheit probiert habe, später Einzug in den Kleiderschrank gefunden.


Offline Skirtedman

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #4 am: 05.03.2025 13:23 »
Zitat
Ich finde es jedenfalls schön, dass du den Karneval genutzt hast, um so etwas einmal auszuprobieren. Bei mir hat so manches, was ich erstmalig bei dieser Gelegenheit probiert habe, später Einzug in den Kleiderschrank gefunden.

Ja, das kann ich bestätigen.

Gerade gestern hatte ich derlei Gedanken. Ich ging da gerade an anderer Stelle ("gestern getragen") ein bisschen näher drauf ein.

Ein kleines Beispiel kann ich an den dort gezeigten Schuhen festmachen. Weil ich gerade gestern dachte, vielleicht sollte ich mich auch jenseits von Fastnacht dieser Schuhform ein wenig öffnen.

Neben den für mich ungewöhnlichem Ausmaß an Absatzhöhe, im speziellen Fall aber auch wegen dem Strass an den Schuhen, kam für mich diese Schuhform im normalen Leben bisher nicht in Frage. Aber noch etwas anderes ist mir besonders gestern Abend wieder durch den Sinn gegangen:

Situation: Ich trug die gezeigten Schuhe wegen Fastnacht. Sie machen aber bei jedem Schritt und Tritt einen richtig lauten Klack! Und von allen Seiten hallt dieser Klack zurück. Der ist also nicht nur für mich hörbar. Ich finde das nicht nur ungewohnt; mich stört das auch. Schon in der Kindheit fand ich das störend, als mal meine Schwestern in ihren Sonntagsstiefeln in der sonntäglichen Ruhe mit mir zum Gottesdienst geklackt sind.
Gestern Abend begegnete ich in einer recht menschenleeren Büro-Gegend einer mitteljungen Frau (begegnen ist zuviel gesagt; sie war zunächst mehr als 100 Meter entfernt). Sie hatte wohl gerade späten Feierabend. Und ihre ähnlichen Schuhe klackten genauso laut wie meine in der selben Tonlage durch die Gegend. Für mich mein Klacksen peinlich! Für sie ihr Klacksen Alltag! - - - Warum also könnte solch ein Klacksen nicht auch in meinen normalen Alltag einziehen??

Für Wenigschreiber (<25 Beiträge) hier ein Blick auf rosa Kleid und die Schuhe: https://up.picr.de/49331991ig.jpg

Offline Skirtedman

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #5 am: 05.03.2025 13:37 »
Bleiben wir bei diesen Schuhen. Wie gesagt: für mich sind es Fastnachtsschuhe.

2018 war ich zwei Wochen nach unserer Fastnacht bei einem Fasnachtsball in Urdorf bei Zürich. Dieses Jahr ist dort Fasnachtsbegräbnis am 15. März (bei uns heute). Ich trug das oben verlinkte rosa Kleid und die da erscheinenden Schuhe.

Es kam, wie es kommen musste. Eine einheimische Frau ergriff die Chance, mit mir wild Paartanz zu betreiben. Irgendwann war dieser recht schnell abrupt zu ende, weil ich den Halt in diesen Schuhe verloren hatte:

Will sagen, mit solchen höherhackigen Schuhen verliert man zum einen einiges an physikalischer Auftrittsfläche, der Fußschwerpunkt wird ungewohnt nach oben verlagert und man ist nicht mehr so stabil wie sonst gewohnt.

Ich konnte den Halt nicht mehr bieten, die es für diesen wilden Paartanz gebraucht hätte und wir kamen unbeabsichtigt - jedenfalls nicht schon so früh - aufeinander zu liegen.

Man macht sich mit vielem, was so als weiblich gilt - hier am Beispiel ungewohnter Absatzschuhe -, zunehmend weniger stabil, mehr "verletzlich", mehr "bedürftig" - man verzichtet also auf Attribute, die gesellschaftlich eher von Männern verlangt werden.

Mehr zu den Schuhen: 18.11.2022 und 28.02.2019

Offline Skirtedman

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #6 am: 05.03.2025 14:20 »
Hallo Kim, wie Du siehst, mir fällt zu Deinem Thema sehr viel ein.

Meines Wissens wurde diese Kleidung gezielt für Frauen entworfen, die nicht körperlich arbeiten mussten und abhängig von Männern bzw. auch der Dienerschaft waren, was Schwäche und hohe gesellschaftliche Stellung zugleich ausdrückte. Das, was Du gefühlt hast, ist also gewollt.
LG, Micha

Ich muss da Micha weitestgehend Recht geben. So ist es (so in etwa).

Bis mindestens in die 80ern las man immer wieder in Büchern über Modehistorie, insbesondere wenn sie von Frauen geschrieben waren, dass die traditionelle Damenmode "unpraktisch", ja "behindernd" beschrieben wurde.

Gerne aufgeführt wurde da insbesondere der "Humpelrock". Damit sollte letztlich in der Tat Wohlstand signalisiert werden, dass es Frau gar nicht nötig hätte, sich durch körperliche Arbeit "erniedrigen" zu müssen, sondern dass Hausangestellte die Arbeit im Heim erledigen und der fürsorgliche Mann mit seiner Erwerbsarbeit genügend Mittel für Prachtvilla und Gesinde und dem Statussymbol Ehefrau erwirtschaften kann.

Als eine Art Befreiung wurde die "Reformmode" angesehen, wo die Röcke weiter wurden und kürzer. Oder die Hemdkleider der 20er Jahre. Oder gar der Minirock.

Jedoch - ich rede immer noch von den Büchern bzgl. Modehistorie - wurde zumindest in Werken der 70er und 80er Jahre als die letztendliche Befreiung der Frau bezeichnet, dass sie Hosen tragen durfte: Die Selbstsicherheit und Bewegungsfreiheit, die Männer in Hosen haben, wurde im Zusammenhang mit Frauen und Röcken / Kleidern immer wieder ungemein beneidet - so wie überhaupt alle Faktoren des Männerlebens als erstrebenswert erachtet wurden. Nicht zuletzt deswegen leidet unsere heutige Gesellschaft unter Fachkräftemangel (Überalterung, Pillenknick und all diese Folgeerscheinungen) - das ist aber ein anderes Thema.

Sehr gerne wurde und wird aber auch immer wieder in diesem Zusammenhang (Modehistorie, "modische Unterdrückung" der Frau - Anführungsstriche sind nicht wertend gemeint) auf den (inzwischen überwundenen) Brauch in Ostasien verwiesen, wo mit Bandagen erfolgreich gezielt versucht wurde, Frauen gar körperlich zu verstümmeln, um diesen "Ausdruck des Wohlstands" zu demonstrieren (siehe "Sokubaku - Füßebinden").

Und ja, so sehr Frauen männliche "Privilegien" beneidet haben, so sehr fürchten Männer, diese "Privilegien" zu verlieren. Wir gestatten sie ja gerne den Frauen als fortschrittliche Männer, aber selber darauf zu verzichten, das kommt uns fremd vor.

Und genau so verhält es sich, wenn wir uns auf ein traditionell weibliches Terrain begeben, vor allem bei betont weiblichen Elementen wie engen oder knappen Röcken, hochhackigen Schuhen. Uns hat man immer versucht, davor zu bewahren und jeden Gedanken daran auch nur im Keim auszumerzen. Freiwillig auf Stabilität, hochgradige Selbstsicherheit verzichten, uns in unserer Beweglichkeit und unserer Stärke zu beschneiden?

Das muss natürlich, wenn wir das dennoch machen, dazu führen, dass die Wahrnehmung von uns sehr ungewohnt wird.

Aber sicherlich kann man das auch anfangen umzudeuten. Mir fiel da sofort Lars ein, und er hat sich ja auch bereits hier zu Wort gemeldet. Aber besonders Lars und ich hatten auch schon mal in diesem mehr oder weniger engen Zusammenhang davon gesprochen, unsere Veränderung durch gewisse Kleidung z.B. mit einem "Schreiten" statt gehen zu empfinden. Man kann diesen ungewohnten Unsicherheiten auch eine selbstgewählte "Würde" zuschreiben, die man freiwillig erlangt, indem man mehr Übung in dieses bislang Ungewohnte bekommt.

Kim, Du fragst selbst:
Zitat
Macht die Kleidung etwas mit einem selbst?
Macht auch ein schlichter Rock etwas mit dem eigenen Selbstempfinden?

Es gibt grundsätzlich zwei Antworten darauf.

Die eine ist, die wir auch immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen hier unter uns betonen:
Du bist und bleibst der gleiche Mensch. Es ist nur ein Kleidungsstück, das sich ändert. Das bisschen anders geschnittener Stoff macht Dich nicht zu einem anderen Menschen, egal ob Du Hose oder Rock trägst.
(Zweifellos gilt diese Antwort vor allem mit Blick darauf, ob Du Deine Identität oder sexuelle Neigung wegen der Kleidung veränderst - jedenfalls bei vielen von uns.)

Die andere ist:
Nein, es macht schon etwas mit einem. Ich für mich persönlich behaupte, meine Kleidung lässt mich zu einem deutlich offeneren, freundlicheren Menschen werden. Ich bilde mir ein, durch meine Bekleidungsfreiheiten ein Mensch (und Mann) geworden zu sein, der sehr viel erträglicher für seine Mitmenschen ist; und wertvoller und leistungsfähiger.
Und ja, je nach Ausgestaltung der Details, steht natürlich die Kleidung auch in Zwiesprache mit ihrem Träger. Mit Stöckelschuhen kannst Du einem Dieb nicht mehr so gut hinterherjagen.

Oder mit meinen oben erwähnten Schuhen konnte ich gestern nicht mehr den ungeahnt einfahrenden Zug bekommen. Doch hätte ich, aber das ist ein ganz anderes Thema...

Offline Kim70

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #7 am: 05.03.2025 15:13 »
Ich finde es jedenfalls schön, dass du den Karneval genutzt hast, um so etwas einmal auszuprobieren. Bei mir hat so manches, was ich erstmalig bei dieser Gelegenheit probiert habe, später Einzug in den Kleiderschrank gefunden.

Vorweg, das wird sicher in diesem Fall nicht passieren, da das Outfit so exotisch ist, dass es auch eine Frau kaum zu anderen Gelegenkeiten als Karneval, Bühne oder ähnlichem anziehen kann, ohne damit sehr aufzufallen.

Was ich allerdings nicht so wahrnehme wie du, ist dieses schwache, anlehnungsbedürftige Gefühl. Ich fühle mich eher stark und besonders, auch in einem besonderen Outfit.

Die Gefühle die Du, Hirti, beschreibst, sind quasi Gesellschaftsgefühle: Du fühlst dich stark und selbstsicher, weil du besonders gekleidet bist  oder eben auch nicht, weil du daneben geriffen hast, es dir unangenehm ist, du meinst, deiner Umgebug fiele auf, dass Du unsicher gehst, rutschst und, dass das vielleicht eine Belustigung der Mitmenschen auslöst.
Habe ich da Recht?


Das schwache anlehnungsbedürftige Gefühl hatte ich weniger emotional, weil ich mich sehr feminin gekleidet hatte.
Dem Teil, den ich davon hatte, habe ich mich gerne hingegeben und ich empfand die Seite als angenehm, wie auch die Reaktion meiner Begleiterinen darauf.
Das würde ich jederzeit wieder wählen.

Der Gegenpart war meine objektive Schwäche.
Ich war in dieser Kleidung tatsächlich nicht in der Lage zu rennen, mich geschickt zu bewegen, stark zu schnaufen oder gar zu kämpfen. Während ich sonst ein Typ bin, der sich vor hypotetischen Gefahren auf der Straße keine Sorgen macht, war mir mit einem Mal klar, dass ich verletzlich, angreifbar und wehrlos bin.
Daher auch das Taxi und nicht die Tram.

Dieses Gefühl hat mich plötzlich überkommen und war mir unbekannt und befremdlich.
Vielleicht ist es ähnlich zu dem, das manche Frauen immer mit sich herumtragen, wenn sie nachts unterwegs sind.

Ja, in meiner sicheren Umgebug habe ich mich toll gefühlt und auch ein blöder Kommentar hätte mich nicht aus der Bahn geworfen, ein derber Rempler buchstäblich schon. 

Offline Yoshi

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« Antwort #8 am: 05.03.2025 18:12 »
Ich nutzte die Faschingstage in unserer Kita ebenfalls, um mal etwas anderes auszuprobieren.

Rosenmontag zog ich ein stretchy Trägerkleid mit Leopardenmuster an, wodurch ich einen Steinzeitmensch-Look erzeugen wollte. Dies gelang mir nicht sonderlich, weil ich aufgrund der Temperaturen eine schwarze Leggings darunter und einen schwarzen Cardigan darüber anzog, um nicht zu frieren. Durch diese Kombi wurde es in meinen Augen sogar alltagstauglich und so werde ich es definitiv auch mal außerhalb der Faschingssaison tragen.

Faschingsdienstag zog ich einen weit ausgestellten schwarzen Tüllrock an, der vorne mit einer niedlichen Schleife versehen ist, sowie einen rosafarbenen Hello Kitty-Pullover. Überraschenderweise wirkte es überhaupt nicht nach Kostüm, eher eine Mischung aus chic und sportlich lässiger Freizeitlook. Somit könnte ich es mir auch ganz gut als Outfit in meiner Freizeit vorstellen, wenn ich mal wieder mit Freund*innen ausgehe.

Ich merkte allerdings schon, dass ich mich im Tüllrock etwas filigraner bewegte als sonst und etwas "tanzendes" in meinen Gang unterbewusst integrierte. Bei beiden Outfits war ich anfangs etwas aufgeregter als normalerweise, aber die Reaktionen und Nichtreaktionen waren nicht anders als sonst. Nach einer Weile fühlte ich mich wirklich sehr frei und glücklich in meiner Kleiderwahl. Durch die femininen Aspekte fühlte ich mich äußerst wohl in meiner genderqueeren Identität.

Auf der Arbeit gab es natürlich Kommentare von Kindern, Eltern und dem Team. Von "Wow, voll der wunderschöne Rock" bis "Heute hast du einen hässlichen Rock an" war alles dabei und ich bin sowas ja gewohnt. Es ist halt Teil meines Alltags. Nach meinem Empfinden wirkten allerdings meine Outfits nicht wirklich "bahnbrechend" auf mein Umfeld. Im Prinzip stellte es ja nur eine Erweiterung meines Alltagslook dar. Böse Zungen würden behaupten, dass für mich das ganze Jahr Fasching sei.

Was mich von meinen Kolleg*innen jedoch unterschied: Ich war der Einzige, der sein Outfit auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Heimweg trug. Das komplette Team zog sich erst auf der Arbeit um, weil es ihnen unangenehm sei, so außerhalb der Kita rumzulaufen. Da reden wir teilweise von "harmlosen" Verkleidungen und Fußwegen von fünf Minuten zur Arbeit. Eine Kollegin trug beispielsweise ein langes orientalisch anmutendes Kleid, was sie auch genauso gut in der Öffentlichkeit tragen könnte, aber erst vor Ort an- und später wieder auszog. Da fiel mir auf, welch ein Selbstbewusstsein ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe. Ich mache mir nicht mehr so viel Gedanken, was die anderen denken könnten und Blicke von Fremden sind mir weitestgehendst egal geworden.

Offline hirti

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« Antwort #9 am: 06.03.2025 08:05 »
Yoshi,
mich erstaunt es direkt dass auch du den Fasching für besondere Outfits nutzt. Ich hatte angenommen, alles was du möchtest... wobei anders gesehen ein weiter Tüllrock ist auch nicht das Outfit für alle Tage.

Dass du der einzige bist, der schon von zuhause im Kostüm kommt, das erstaunt mich aber doch sehr! Ok, würde ich verstehen, wenn es eine Pyjama-Party wäre, aber warum man als Kita Erzieherin im Fasching nicht im Kostüm auf der Straße sein kann... das verstehe ich nun wirklich nicht.
Natürlich haben wir da einen ziemlichen Vorteil - laufen wir doch an vielen Tagen des Jahres in Outfits herum die für andere nach Karneval aussehen und haben gelernt damit umzugehen oder es sogar zu genießen.

KIM70
das Gefühl der Unsicherheit in speziellen Outfits kenne ich auch.
Gerade wenn ich nachts mit hohen Absätzen und engem Rock durch irgendeine dunkle Gegend zum geparkten Auto stöckle fühle ich mich auch nicht ganz so sicher wie wenn ich das gleiche mit Jeans, Lederjacke und den schnellen Sneakers tue.
Ich glaube übrigens dass gerade das Korsett all die Effekte noch einmal ziemlich verstärkt.
Ich selber habe noch nie eins getragen (nur ein paar Mal eine eng geschnürte Korsage), aber stelle mir das Gefühl der eingeschränkten Atmung, der erzwungenen steifen Körperhaltung und des eingeschnürt seins schon sehr beeindruckend vor.

@skirtedman
willst du dir "diesen Schuh wirklich anziehen" - also tatsächlich intensiver mit höheren Absätzen liebäugeln??
Mir kommt ein wenig vor dass du sie dir zwar selber schlechtzureden versuchst (instabil, rutschig, unbequem), sie dich aber doch ganz schön reizen.
Ich kann dir versichern, dass deine Schuh-Wahl auf mich auf deinen Bildern immer sehr tadellos wirkt. Du hast einen guten Geschmack immer den passenden Schuh zu deinen Kleidern und Röcken zu wählen und einen stimmigen Anblick abzugeben.
Ohne Zweifel würde eine Erweiterung auf höhere Schuhe dir aber noch mehr Spielraum bei der Gestaltung deiner Gewandung bieten. (und auch mehr Chancen, mal daneben zu greifen  ;) )

ABER:
Ich würd mir das zweimal überlegen, denn es gibt so unglaublich viele schöne Schuhe mit hohen Absätzen. Und das bisweilen recht ungezügelte Sammel-Eichhörnchen in dir könnte schnell dafür sorgen, dass du neben deiner Kleider-Halle auch noch eine Schuh-Halle bauen musst.
Und Schuhe haben oft einen ganz gemeinen Mitstreiter => die "Handtasche". Wenn du nämlich erst mal die schönsten Pumps im unglaublichsten Weinrot gefunden hast, was wird dann wohl passieren, wenn du an einem Schaufenster mit der zufällig genau passenden Handtasche vorbeikommst...?

Offline Skirtedman

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #10 am: 06.03.2025 11:10 »
Wenn ich hirtis Anmerkungen zu mir noch schnell kommentieren darf...

Danke für die Warnung!

Mein Schuhfundus ist auch schon größer als nötig, sodass ich mind. 2x im Jahr das Schuhwerk konzertiert umräumen muss und selbst dann lagert noch etliche aktuelle Saisonware im Keller, durch den ich dann immer mal wieder auf Entdeckungstour gehe. Da bleibt so manches Paar in der Saison ungetragen oder gar noch immer gänzlich jungfräulich.

Ich kann Dich aber beruhigen, auf Pumps, jedenfalls, was ich unter diesem Begriff verstehe, werde ich nicht abfahren. Mein Interesse bezog sich lediglich auf diese Schuhform wie gezeigt. Identisch so, halt ohne Strass (auch wenn der auf den Bildern nicht zu sehen ist). Stiefeletten mit Blockabsatz - so würde ich das umschreiben. Mein Ausdruck "hochhackig" bezog sich auf diese Schuh-/Absatzform, Du hast mit "hochhackig" eventuell einen etwas enger gefassten Begriff im Sinn.

Bei den Handtaschen ist die Suchtgefahr eher etwas größer. Obwohl ich bereits einen ausreichend großen Fundus an - vor allem - Umhängetaschen habe (aber auch vor allem Rucksäcke, Einkaufstaschen), liebäugele ich in letzter Zeit durchaus schon mal mit der ein oder anderen - eher femininen - Hand- oder Umhängetasche; wobei das Thema Handtasche als solche eher die große Ausnahme sein wird; hinten am Rücken oder umgehängt empfinde ich als viel praktischer, befreiender.

In diesem Zuge ist mir aufgefallen, dass ich erst so vor 10 Jahren begann, nach solchen Taschen Ausschau zu halten, nämlich als ich begann, verstärkt bei kulturellen Anlässen aus privater Motivation aufzulaufen, z.B. in Museen oder so. Seit 1991 hatte ich bereits zwei Umhängetaschen gehabt aus damals praktischen Erwägungen, diese - aber auch die von vor 10 Jahren - waren allesamt noch aus der Herrenabteilung. Und die Handvoll Männer-Umhängetaschen sind mir aus heutiger Sicht echt zu rau, um sie an den meisten meiner Klamotten zu tragen (Aufrauhung des Stoffs!). Drum inspiziere ich seit ein paar Jahren die Damenabteilung, da sind glattere Materialien ohne harte Ecken und Kanten leichter zu finden. Und ja, manch unnötiges Stück lächelt mich da bisweilen tatsächlich an!

Eine richtig große Damenhandtasche, die auseinanderklappbar ist, legte ich mir zu (in den allerletzten Sekunden vor dem ersten Lockdown) aus praktischen Erwägungen (gedacht für den Einsatz auf dem Gepäckträger in Verbindung Shopping und Rad). Da ich nicht dachte, dass mir das neu entdeckte Radfahren nicht dauerhaft Spaß machen würde, kam sie so auch kaum zum Einsatz. Der erste wirkliche und quasi einzige Einsatz war dann wiederum zu Fasching!

So viel zum Thema, dass man zu Fasching neue Grenzen ausloten kann - und sie später in den Alltag eventuell einfließen lassen kann.

Wie gesagt, vor 10 Jahren orientierte ich mich taschenmäßig noch ausschließlich am Taschenangebot für Herren. Das war eine Zeit, wo sich die Münder noch zerfledddert hatten nach einer Party, als einer meiner männlichen Gäste angeblich mit einer Damenhandtasche aufgelaufen war. Skandal!

Mittlerweile ist mir sowas ziemlich egal. Und das sollte auch bei anderen Dingen relativ egal sein. Auch bei der Eroberung von Dingen, die einen anfangs erst mal ungewohnt vorkommen, und wo man sich ungewohnt verletzlicher, unsicherer fühlt - um wieder zum Thema zurückzukommen.

Ein bisschen Hilfsbedürftigkeit, Schutzbedürftigkeit, Konzentration auf die schmückenden Dinge tut auch mal uns Männern ganz gut!

Offline Skirtedman

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #11 am: 06.03.2025 15:20 »
Dieses Gefühl hat mich plötzlich überkommen und war mir unbekannt und befremdlich.
Vielleicht ist es ähnlich zu dem, das manche Frauen immer mit sich herumtragen, wenn sie nachts unterwegs sind.

Zu diesem Passus passt ein Artikel, der mir gerade übern Weg gelaufen ist:

"Viele Frauen fühlen sich unsicher – leider zu Recht", mit der Neben-Überschrift "Alltag voller Angst"
https://home.1und1.de/magazine/wissen/psychologie/frauen-fuehlen-unsicher-recht-40729652

Offline Albis

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Antw:Ungewohnte Selbstwahrnehmung
« Antwort #12 am: 06.03.2025 21:29 »
Zu bestimmten Anlässen ziehe ich ja auch Kleidung und Schuhe an, mit denen ich mich nur eingeschränkt bewegen kann. Da ist es mir auch schon passiert, dass man mir die Tür aufgehalten und mich vorgehen lassen hat, obwohl ich als Mann ja dahingehend konditioniert wurde, dass in der gegenteiligen Rolle sei. Das hat sich erstmal recht komisch angefühlt und war mir auch irgendwie unangenehm. Aber wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, sage ich mir: "Warum eigentlich nicht? Warum ich als Mann nicht auch mal in den Genuss der Annehmlichkeiten kommen, die sonst nur Frauen zuteilkommt?" Letztens ist das nichts anderes als Gleichberechtigung, die ja alle (oder zumindest viele) anstreben.

Mein Sicherheitsgefühl ist wahrscheinlich weniger stark als das anderer weiblich gekleideter Menschen eingeschränkt. Ich gehe davon aus, dass das u.a. an meiner Körpergröße von 1.90 m liegt. Zum Glück ist mir auch lange nichts passiert. Möge das auch bitte so bleiben. Aber etwas eingeschränkt ist mein Sicherheitsgefühl schon, insbesondere, wenn ich meine höchsten Plateaustiefel trage, mit denen ich nicht rennen kann. (kommt eher selten vor). Aber grundsätzlich versuche ich, aufmerksam zu sein und kritische Situationen von vornherein zu umgehen.

LG, Albis


 

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