Zitat Holger: Ich glaube, die urspüngliche Frage von dir (Micha) und Nico war, warum verhalten sich intelligente Menschen so unvernünftig. Warum wollen wir so wenig von überprüften Fakten wissen? Wieso vertrauen wir unseren Instinkten mehr?
Naja, wir wollen wahrhaben was wir glauben. Unsere persönlichen Erfahrungen werden zu Prägungen und Überzeugungen. Sie wiegen stärker als faktisches Wissen. Das wird gerne ignoriert, wenn es unsere Überzeugungen gefährdet. Es kann nicht sein was nicht sein darf. Glauben versetzt Berge nicht Wissen.
Das funktioniert so gut, weil unsere Prägungen durch Erziehung und Umwelt und andere persönliche Erfahrungen in einem Hirnbereich gespeichert werden, der Vorfahrt hat bei der Datenverarbeitung gegenüber rationalen Überlegungen. Zudem füttert das Hirn Emotionen mit Hormonen. Das macht Gefühle so viel stärker als Logik.
Daneben gelten Emotionen als glaubwürdiger, weil Leidenschaft sie authentisch macht Der rational abwägende Mensch gilt als kaltherzig. Während Menschen, die mit heißem Herzen sich Luft machen, auf einem Peak (Welle) von Dopaminen (Glückshormonen) schwimmen. Das bringt mehr Zustimmung. Leidenschaft macht sympathisch. Das wirkt auf andere engagiert.
Antwort Micha: Ja, da ist was dran. Deswegen haben wir so viel "Respekt" im Sinne von "Angst" vor starken Menschen, auch wenn wir inhaltlich nicht mit ihnen übereinstimmen. Deswegen werden Leute wie Putin oder Erdogan auch immer stärker, weil Stärke Gefolgschaft anzieht. Das sind Erfolgsrezepte, die wir seit Jahrmillionen in unseren Genen haben. Da ist unsere Kultur nur eine kleine dünne Schicht drüber. Deswegen werden die progressiven Ideen von Humanisten wir dem Buddha, Kung Tse, Sokrates, Jesus oder Muhammad auch immer wieder von Konservativen vereinnahmt, Konservativen in dem Sinne, dass sie diese alten, vererbten Verhaltensmuster pflegen, weil diese ihnen intuitiv einsichtig sind, während die komplexen Gedankengänge kontraintuitiv erscheinen.
Antwort Holger: Ich finde es wäre ein Fortschritt, wenn wir uns bemühen würden, etwas mehr die Fähigkeit zu nutzen, die uns von den Tieren unterscheidet. Instinkte und Emotionen haben auch Tiere. Einen Neocortex mit den u.a. rationalen Möglichkeiten wie beim Menschen haben sie nicht. Auch hier im Forum werden manche Meinungen im Rausch der Überzeugung vertreten, obwohl sie individuelle Erfahrungen sind und andere Personen in vergleichsweisen Situationen andere Erfahrungen gemacht haben.
Ich traue mich gar nicht eine Meinung zu formulieren, ohne sie mit ähnlichen Erfahrungen anderer abzugleichen und darüber nachzulesen. Das tut mir gut, denn häufig muss ich meine allererste und vorläufige Meinung zu einer Erfahrung dann über Bord werfen. Es ist mir jedesmal hilfreich, kritisch zu meinen ersten Eindrücken zu sein. Oft sehen die Dinge nüchtern betrachtet ganz anders aus.
Der Marburger Philosoph und Hermeneutiker (Kommunikationsexperte) Gadamer hat immer wieder betont, dass ein Dialog erst dann eine runde Sache wird, wenn man ernsthaft die Möglichkeit bedenkt, dass der Gesprächspartner recht haben könnte. Aufs Gewinnen wie in einer Polit-Talkshow darf man dann nicht aus sein (die führen auch nie zu Verständigung und manchmal sogar zu Handgreiflichkeiten).
Ich will damit sagen: Eine Meinung braucht Reflektion. Die Erfahrungen und Meinungen anderer sind dafür wichtig, sowie eine verfeinerte Kommunikation zwischen unseren Emotionen und der Ratio. Das kann man üben. Unser Gehirn ist dafür technich ausgerüstet. Wir können unseren Hormonen, die immer auf der Seite unserer assoziativen Erfahrungen stehen, ein Schnippchen schlagen. Das macht uns unabhängiger, freier und fairer. Das die eigene Meinung wahr ist, ist nämlich nur eine Möglichkeit, solange wir das nicht ergebnisoffen überprüft haben. So kann aus Überzeugung Erkenntnis werden.