Autor Thema: Primäre oder sekundäre Sozialisation?  (Gelesen 9894 mal)

Offline MAS

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Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« am: 27.04.2004 18:50 »
Hi Leute,

ich lese für meine Dissertation gerade "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Daraus habe ich mir gerade folgendes notiert:

„Der mehr oder weniger ‚künstliche’ Charakter der sekundären Sozialisation macht die subjektive Wirklichkeit ihrer Internalisierungen gegenüber bedrohlichen Wirklichkeitsbestimmungen verwundbar, nicht weil die internalisierten Inhalte im Alltagsleben einen minderen Gewißheits- und Wirklichkeitsstatus erreichten, sondern weil ihre Wirklichkeit weniger tief im Bewußtsein verwurzelt ist und daher leichter entwurzelt werden kann. Wir nehmen zum Beispiel sowohl das Nacktheitsverbot, dem unser Schamgefühl entgegenkommt und das wir in der primären Sozialisation internalisieren, als auch die in der sekundären Sozialisation erworbenen Garderobevorschriften für verschiedene gesellschaftliche Anlässe im Alltagsleben als Gewißheit hin. Solange sie nicht gesellschaftlich angefochten werden, sind beide für den Einzelnen kein Problem. Im ersteren Fall müsste jedoch die Anfechtung viel stärker sein als im zweiten, wenn sich aus ihr eine  Gefahr für die Routinegewissheit seiner Wirklichkeit herauskristallisieren soll. Eine recht geringe Verschiebung der subjektiven Wirklichkeitsbestimmung reicht jedoch aus, damit ein Mann in sein Büro geht und dies auch noch selbstverständlich findet. Viel drastischer müsste (bis hier S. 158) die Verschiebung sein, damit derselbe Mann es selbstverständlich fände, unbekleidet herumzulaufen. Im ersten Falle genügt eine kleine gesellschaftliche Umstellung . ein Ortswechsel etwa von einem ländlichen zu einem großstädtischen College. Der zweite Fall würde eine Revolution im Milieu des Mannes bedeuten und subjektiv von ihm, vielleicht erst nach heftigem Widerstand, als Konversion erlebt werden.“ (S. 158 f.)

Ist nun die Sitte, das Jungen und Männer keine Röcke tragen in unserer Gesellschaft ein Teil der primären oder der sekundären Sozialisation? Wenn ich sehen, wie schwer sich viele Männer mit dem Röcketragen tun, bin ich geneigt, ersteres anzunehmen. Das bedeutet, dass das Röcketragen ähnliche Ãœberwindung kostet wie das Nacktgehen.

Was meint ihr?  ???

Liebe Grüße,

Michael
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triks

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #1 am: 27.04.2004 20:41 »
Das Röcketragen sehe ich durch Garderobevorschriften reglementiert und nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann "... die in der sekundären Sozialisation erworbenen  Garderobevorschriften für verschiedene gesellschaftliche Anlässe im Alltagsleben ..." in der sekundären Sozialisation.

Das die Hemmumgen, als Mann einen Rock zu tragen, i.d.R. größer sind, als in einen Büroarbeitsplatz zu wechseln, bedeutet für mich nicht, dass das Röcketragen dem Nacktsein gleichzusetzen wäre.

Wolfgang

Offline MAS

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #2 am: 27.04.2004 20:47 »
Man müsste dazu mal Kinder erforschen, in Bezug auf dies Scheu, sich nackt zu zeigen und (sofern es Jungs sind) einen Rock zu tragen, und dann gucken, was früher einsetzt. Aber wer macht so eine Forschung?

Gestern sah ich einen Jungen und ein Mädchen, vielleicht 5 Jahre alt, und das Mädchen sagte zu dem Jungen: "Du bist ein Mädchen!" Er trug nämlich eine Perlenhalskette. Und er machte sich gar nichts aus dieser Bemerkung.

Die Halskette gehörte für das Mädchen also schon in den weiblichen Bereich, und das in einem Alter, in dem nach meiner Kenntnis, die Sekundärsozialisation noch nicht greift. Aber da bin ich mir nicht so sicher, und die beiden Autoren meines Buches gehen nicht in diese Details.

Ich würde Dir, lieber Wolfgang also gerne Recht geben, bin aber nicht sicher, ob es auch richtig ist.

Beste Grüße,

Michael


PS: Hier noch ein Zitat aus besagtem Buch:

„Es mag Sinn haben, als ein Mann zu sterben, kaum aber als stellvertretender Leiter der Damenstrumpfabteilung.“  (S. 159)
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JuergenB

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #3 am: 29.04.2004 12:39 »
Hallo Michael,

wo ich Deinen Beitrag gerade lese: wärst Du interessiert, am Aktionstag im MTZ eine Vorlesung in einer Bücherei zu halten? ERst mal grundsätzlich, ohne Terminverfügbarkeit.

Gruß
JürgenB


Offline cephalus

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #4 am: 01.05.2004 18:15 »
Ist nun die Sitte, das Jungen und Männer keine Röcke tragen in unserer Gesellschaft ein Teil der primären oder der sekundären Sozialisation? Wenn ich sehen, wie schwer sich viele Männer mit dem Röcketragen tun, bin ich geneigt, ersteres anzunehmen. Das bedeutet, dass das Röcketragen ähnliche Ãœberwindung kostet wie das Nacktgehen.

Hallo Michael,
ich gehoere zweifellos zu der Gruppe, die sich mit dem Rock sehr schwer tun - zur primaeren Sozialisation wuerde ich die Form der Kleidung aber nicht rechnen, weil eine kleine Verschiebung des Ortes fuer mich z.B. alles aendert: In Thailand wo der Rock, wenn auch in anderer Form zum Strassenbild gehoert, habe ich kein Problem damit.
Hier haette ich im Gegensatz dazu eher eim Problem wenn mich ungeplant jemant im Rock sieht, als wenn er mich nackt saehe.

Wie Kinder reagieren anders - ich bin gerade im Urlaub und habe am Strand einen Buben, etwa 5Jahre, beobachtet, der jede Menge Spass hatte im etwas zu langen Rock seiner Schwester mit Wellen und Sand zu spielen. Als ihn eine Welle voll erwischte und ihn fast auszog war ihm das aber unangenehm.

Cephalus


Offline MAS

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #5 am: 03.05.2004 13:45 »
Hallo Michael,

wo ich Deinen Beitrag gerade lese: wärst Du interessiert, am Aktionstag im MTZ eine Vorlesung in einer Bücherei zu halten? ERst mal grundsätzlich, ohne Terminverfügbarkeit.

Gruß
JürgenB

Hi Jürgen,

worüber denn? Und das Wann spielt auch eine Rolle, da ich von jetzt an ein Jahr habe, um meine Diss. zu Ende zu bringen, und gerade mal die Grundsteine gelegt sind.

Liebe Grüße,

Michael
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Offline Aryaman Stefan

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Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #6 am: 19.07.2004 13:53 »
... neulich habe ich einem 14-jährigen Jungen einen Rucksack geschenkt, dann kritisierte mich eine wohl 40-jährige Freundin, daß ich einem Jungen doch nicht einen Mädchen-Rucksack schenken könne, die Mädchen würden ihn doch auslachen (wie verquer das ist!). Sie wußte aber nicht genau zu bezeichnen, was das Mädchenhafte an dem Rucksack ist.

Aus meiner Schulzeit kenne ich gleiches in Bezug auf den Tornister/Ranzen, es gab welche für Jungen, welche für Mädchen. Ebenso ist es mit den Fahrrädern noch heute. Doch indische Männer, die einen Dhoti oder dergleichen tragen, benutzen - natürlich! - ein  "Damenfahrrad".

Ich fragte den genannten Jungen später, wie es ihm mit dem Mädchenrucksack ergangen ist, er hatte aber nichts bemerkt, weder unangenehm noch besonders angenehm.

Das zeigt mir mal wieder, wie fließend die Geschlechts-gebunden (-bestimmenden?) Sozialisationen sind, mal so, mal so, entsprechend dem Zeitpunkt und den Mustern der jeweiligen Gesellschaft, Familie, Freundeskreis usw., Gesellschaftsschicht oder Dorf/Stadtteil.

Wenn ich an meine Kindeszeit denke und was seitdem (ab 1933) sich alles verändert hat - oh, oh, oh. Mal sind irgendwelche Zeichen Mädchensymbolik, mal Jungensymbolik, mal nichts dergleichen. Doch wann werden die Kinder in diesen Richtungen geprägt? Ich glaube so früh, daß wir uns nicht mehr daran erinnern können, also fast von Geburt an. Und nicht durch Worte sondern irgendwie eher indirekt, wie eigentlich, Michael?

Seht aber meinen Beitrag unter http://www.rockmode.de/001/forum/index.php?board=5;action=display;threadid=353&start=0 .

Wo alle Jungen Röcke tragen, ist es selbstverständlich, doch wenn mal jemand kommt und den Rockträger als Mädchen verlacht, kann sich schnell Scham einstellen - es sei denn, der Junge oder seine Clique ist stärker als die/der Spötter/in. Andersherum wird es seltener sein. Jedenfalls kannst du ein Mädchen, das gerne Junge sein möchte und sich derartig kleidet, nicht beschämen.

Was steht dahinter? Werden Mädchen gegenüber Jungen von Anfang an herabgesetzt, minderwertig gemacht oder irgendsowas? Obwohl die kleinen Jungen fast nur mit einem "Mädchen", nämlich ihrer Mutter zusammen sind?

In Indien, wo auf dem Lande für viele Leute schon das Stück Tuch für den Lungi nicht einfach so zu kaufen ist (wenig Geld), Hosen schon gerade nicht, ist der Lungi (Wickelrock) einfach normal, und es gibt keine Diskussion. Dennoch habe ich nicht selten gesehen, daß Jungen eher häßliche und viel zu große (mit einem Bindfaden gegürtete) Shorts anhaben als einen schönen weißen oder bunten Lungi - nicht alle, aber oft. Bei Mitgliedern gehobener Kasten (Brahmanen und so) ist da aber der Stolz, einen Lungi oder eher Dhoti zu tragen, vorherrschend, denn Mädchen tragen eindeutig was anderes: langen Rock oder Sari.

So sind wohl die feinen Regeln, die die Gesellschaft sich macht, aber ab wann wird der Junge zum Jungen gemacht?

Wir erfaren es ja alle: der Vater oder ein anderer angesehener Mann kann noch so viel Rock tragen und dafür gelobt und angesehen sein, sein Sohn oder andere Jungen werden es aber nicht übernehmen bis die Pubertät vorüber ist. OK, manche sehr freie Kinder gibt es, die ihrer eigenen Lust leben, aber im Allgemeinen ...

Seht mal unter Google unter den Stichwörtern "Junge Rock" oder "boy skirt" usw. Fast nichts Informatives, selbst unter "boy kilt" ist kaum mehr. Doch für Männer ist da einiges.

Aryaman Stefan


ich liebe lange weite Röcke - oh dieses Wehen im Meereswind hier im Norden

triks

  • Gast
Re:Primäre oder sekundäre Sozialisation?
« Antwort #7 am: 19.07.2004 15:57 »
...
Seht mal unter Google unter den Stichwörtern "Junge Rock" oder "boy skirt" usw. Fast nichts Informatives, selbst unter "boy kilt" ist kaum mehr. Doch für Männer ist da einiges. ...

Versuche es mal mit "männlich Kind Rock Kleid" oder "male child skirt dress". So finden sich mit google neben jede menge zweifelhaften Beiträgen auch einige gute Artikel über Geschlechtersozialisation.

Wolfgang


 

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