Mir geht die Diskussion hier ziemlich auf den Senkel. Hier wird eine Menge Verunsicherung geschürt.
Aber Ihr habt ja Recht, sowas kommt vor. Und totschweigen hilft auch wenig.
Und ich bin ganz mit Timper: Straftaten gehören gemäß dem StGB geahndet.
Und ich bin auch sehr kritisch gegenüber mildernden Umständen. Vergehen ist Vergehen. Früher - weiß nicht ob´s heute noch so ist - hab ich oft gehört, Strafminderung, wenn nicht gar Freispruch, weil Täter unter Alkohol stand. Das geht meiner Meinung gar nicht. Auch nicht eine frühere Haftentlassung wegen guter Führung. Stattdessen befürworte ich Haftverlängerung wegen nicht guter Führung.
Dass die Strafen gemäß StGB zu lax wären, kann ich nicht beurteilen.
Dass Opfer bestmöglich betreut werden müssen, sehe ich genauso. Dazu hatte sich ja mal der Weiße Ring gegründet, weil bei der Strafverfolgung nur die Bestrafung des Täter im Fokus stand, das Opfer aber alleine gelassen wurde.
Jedes Opfer ist bemitleidenswert. Aber das Strafmaß an das Leiden des Ofers anzupassen, halte ich für gefährlich. Da kommen wir schon der mittelalterlichen Beliebigkeit nahe.
Es gibt - ich schweife kurz ab - etliche Fälle von fragwürdiger Erwerbsunfähigkeits-Verrentung. Menschen mit psychischer Belastung werden oft Mitte 40 bereits in die Rente geschickt. Zumeist unntötig. Ihnen wäre eher geholfen, sie in ein normales Leben zu integrieren. "Sozialromantik" - weiß nicht aus welcher Szene es kommt; ich muss dabei schmunzeln - hat inzwischen vieles pathologisiert, also vieles zu krankhaften Leiden ausgerufen.
So sehr jedes Opfer sexueller Übergriffe unter den Folgen zu leiden hat - so sind diese Erfahrungen, so schwer sie auch sein mögen, eben einschneidende Erfahrungen, die aber nicht zu Unerträglichkeiten hochstilisiert werden sollten.
Bis heute - ich weiß, es klingt jetzt lächerlich - mache ich die Augen kurz zu, wenn ich die Zahnpastatube von meiner Zahnbürste absetze. Mit ungefähr 7 hatte ich ein einschneidendes Erlebnis, wo mir genau dabei ein Stück Zahnpasta durch die Bürstenborsten genau in mein Auge gespritzt ist. Schmerzhaft. Bleibender Schaden. Bis heute - ewig danach - petze ich kurz meine Augen im entscheidenden Moment zu. Bin ein gebrandmarktes Kind.
Anderer Fall. Einem Freund ist mal beim Radfahren von schräg ein anderer ins Rad reingefahren. Er machte den Abgang mit zwei, drei Knochenschäden. Ewig her. Bis heute, mäßig sportlich, durch und durch ein Mann, an Fußball und Technik interessiert, bis heute steigt er auf kein Fahrrad mehr.
Wir alle haben etliche prägende Erfahrungen gemacht. Schlimme, scheinbar harmlose, unterschwellige. Und ich will jetzt gar nicht von schrecklichen Erlebnissen reden wie systematischer Verfolgung oder fortgesetzte Kriegserfahrungen am eigenen Leib. Von der Leiter gestürzt, Verkehrsunfall. Eigenverschulden, Fremdverschulden, absichtliche Gewalt. Trotzdem fahren wir z.B. immer wieder über die Landstraße und auf die Autobahn, auch wenn es unheimlich ernst ausgehen kann. Oder steigen ins Flugzeug.
Ich will noch immer nicht die schrecklichen Erlebnisse eines Opfers sexueller Gewalt kleinreden. Aber Shit happens in unserem Leben. Shit. Unschön. Dramatisch. All die prägenden Ereignisse aber zu einer dauerhaften Krankheit zu erklären, ist der falsche Weg.
Wir leben hier im Land mit 84 Mio Menschen zusammen. Da gibt es Unfälle, Gefahren, Verstöße, Straftaten, Gewalt. Ja, leider. Das Leben ist nicht von Anfang an bis zum letzten Atemzug immer nur durchweg schön. Wir müssen auch schlechte Erfahrungen aushalten, verarbeiten können.
Und bei der ganz ursprünglich dieser Diskussion zugrunde liegenden Statistik geht es um Sexualdelikte. Heute werden Sexualdelikte erfasst, die früher als quasi normal angesehen wurden. Bis in die 70ern oder so bestand noch das Recht auf ehelichen Beischlaf, explizit oder zwischen den Zeilen. Inzwischen ist es so, dass dieses ehelich besiegelte Bedürfnis dauerhaft abgelehnt werden kann und bei scheinbarer (oder tatsächlicher) Einforderung das sogleich in der Statistik auftauchen kann. Bei sexuellen Übergriffen gilt zunächst das Opfer als vertrauenswürdig, die Unschuldsvermutung gegenüber dem Täter entfällt. Das öffnet Tür und Tor, mit einer Strafe des vermeintlichen Täters dem vermeintlichen Opfer Genugtuung zu erlauben. Wieviele sexuelle Delikte sind womöglich keine wirklichen gewaltausübende Vorkommen gewesen? Wie oft wird von staatlichen Stellen eventuell überreagiert, nur weil eine angebliche Gewalt stattgefunden haben soll? Es ist ja schon ein sexueller Übergriff, wenn ein Rainer Brüderle in alkoholisierter Grundstimmung den sicherlich blöden Kommentar "Auch Sie könnten ein Dirndl gut ausfüllen" abgibt.
Heute ist vieles Gewalt, was früher die Leute einfach weggesteckt hätten. Freilich längst nicht immer zu deren Vorteil. Aber auch längst nicht immer zu deren anhaltenden Nachteil.
Fallbeispiel. Dieser Tage erreichte mich die Radiomeldung, wonach ein sehr junger Mann eine wohl sehr junge Frau nach gemeinsamer Abendunternehmung im Auto mitgenommen hat. Vor ihrer Haustür erhoffte sich der junge Mann wohl mehr von seiner Beifahrerin. Sie aber hätte abgelehnt. Trotzdem hat er sie "berührt". Sie stieg aus, er flüchtete. Die Polizei konnte ihn nach 5 Minuten stellen und in Untersuchungshaft nehmen.
Ich weiß nicht, ob die Meldung vom Sender so ungenau formuliert wurde, oder ob bereits die Polizeimeldung so ungenau das transportierte. Jedenfalls bin ich nicht im Bilde, wo und wie er sie "berührt" hatte. Aber es hinterlässt das Gefühl, dass womöglich jede menschliche Interaktion justiziabel ist, wenn das Opfer oder sich als Opfer ausgebende Person einen Vorwurf macht.
In mir hinterlässt es das Gefühl, dass in manchen Dingen unsere Gesellschaft hypersensibel gemacht wurde. Mit jeder Umarmung irgendeiner Bekannten könnte ich von U-Haft bedroht werden. Mir ist auch nicht immer Recht, wenn eine mir kaum bekannte Frau mir endlos um den Hals fällt.
Eine zu starke Opferfixierung öffnet leider auch dem Denunziantentum, der Verleumdung das Tor.
Trotz starker Sensibilisierung scheint mir aber die Anerkennung von psychischer Gewalt noch ein ziemlich unerschlossenes Gebiet zu sein. Psychische Gewalt geht sehr oft von Frauen aus. Dazu kann auch Liebesentzug zählen. Aber psychische Gewalt ist ja noch schlechter juristisch zu beweisen. Und würde psychische Gewalt als Delikt anerkannt, wäre der Verleumdung ja noch weiter das Tor geöffnet. Man könnte noch schneller sich seines Lebenspartners mit juristischer Unterstützung entledigen und an ihm/ihr rächen, weil irgendwas an ihm nicht gepasst hat und zur Gewalt aufgebauscht wurde. Das will ich gar nicht zuende denken.
Unter den 84 Mio Menschen hier im Land leben die meisten auskömmlich miteinander. Und das ist mir wichtig festzuhalten. Und Timper, mir oder JoHa oder wem auch immer kann theoretisch vielleicht was widerfahren. Shit happens. Meistens ist es aber viel harmonischer unter uns unterschiedlichsten Menschen als dieser Thread dies glauben machen will.