Hallo Rockers,
heute morgen war ich mal wieder etwas mutiger. Um 7h30 im Bus zum Bahnhof. Schülerhauptverkehrszeit. Und ich im kurzen Strickkleid und hohen Stiefeln mittendrin.
Da ich in den letzten Tagen immer mit demselben Bus gefahren bin wurde ich sozusagen schon erwartet. Die ganze hintere Hälfte des Busses bestand aus einem kollektiven Gaffen. Nix neues, die Gesichter kenne ich schon. Es sind ja immer dieselben. Aber Kommentare habe ich keine vernommen. Klar, daß ich in einer von Bushido und Seinesgleichen geprägten Welt fast nur in mir unbequemen Schubladen lande. Aber ich scheine mich dort nicht mehr so sehr zwischen geistigem Unrat einklemmen zu müssen. Offensichtlich habe ich in diesen Köpfen doch eine Art Platz gefunden. Vielleicht bekomme ich dort sogar heimliche wohlgesinnte Gedanken ab. Auch wenn sich in solchen Gruppen das kaum jemand zu sagen traut. ("solche Gruppen" == geistig schlicht gestrickte Wesen auf dem Weg ins Berufsförderungszentrum.)
Am Bahnhof gab's dann natürlich einige Lacher und Pfiffe. Aber nur aus größeren Gruppen, die ohnehin schon etwas lauter waren. Schade, daß ich nicht unauffällig hinter mir her laufen kann, um mir die genauer anzusehen. Im Großen und Ganzen reagieren die Meisten auf so eine Störung im normalen Weltbild recht gelassen. Woraus ich schließe, daß die Störung gar nicht so groß ist, wie ich mir manchmal einbilde. Scheinbar kommt unsere Gesellschaft mit solchen Ausnahmen wie mir doch einigermaßen zurecht.
Einerseits bin ich in unserer 40K-Einwohner-Stadt schon Vielen bekannt. Andererseits werde auch ich selbst in gewagteren Outfits immer entspannter und nehme meine Umgebung gleichmäßiger wahr. Früher habe ich mit Radar-Ohren und selektiven Blicken genau die Leute bemerkt, die deutlich auf mich reagiert haben, mit Rufen, Pfeifen oder Fingerzeigen. Aber eine etwas gelassenere Betrachtung offenbart doch, daß das nur Einzelne sind. Klar schauen alle ...
Alle? Noch nicht mal das. Wenn man beim Warten auf Bus & Bahn gelangweilt herumsteht, ist einem ja jede Attraktion recht. Und wenn es nur die krümelpickende Taube ist. Aber es gibt auch Grüppchen, die sich angeregt unterhalten und, obwohl sie mich bemerken, einfach weiterreden. Ohne zu Gaffen. Ohne ihre Gesprächspartner auf mich aufmerksam zu machen.
Die gucken einfach nicht. Ja sowas! Frechheit!

Fazit: so schlimm isses garnicht. Klar falle ich auf, aber es ist nur für Einzelne unangenehm oder lächerlich. Weil die eben ihre eigenen Merkwürdigkeiten in ihrer Welt im Kopf spazierentragen. Ansonsten verträgt unsere Gesellschaft uns Rocker doch ganz gut. Wenn man sich selbst entspannt, entspannt sich plötzlich auch vieles um uns herum.
Wir leben nicht in ein und derselben Welt. Jeder hat seine eigene im Kopf. Und im Bauch. Diese persönlichen Welten sind eine Summe der Erfahrungen und augenblicklicher Eindrücke. Sozusagen eine Spur der Standpunkte und Blickrichtungen von unserem Weg durch das Ganze, das uns umgibt. Es sind alles persönlich gefärbte Ausschnitte aus dem großen Ganzen. Wir sind sehr vorsichtig am auswählen, was wir daraus in unsere Welt hineinlassen. Da wird gefiltert, schöngefärbt und ausgeblendet. Das Ganze nimmt wohl kaum jemand wahr. (Das Ganze uns Umgebende und den ganzen Prozess des Filterns.)
Die Welten der anderen kennen wir nicht, wir beinflussen sie nur. Aber meine Erfahrung ist: Sobald ich anfange, nicht mehr verspannt und ängstlich um mich zu schauen, sieht das Außen auch gleich weniger bedrohlich aus.
Unsere Gesellschaft, unsere kollektives Bewußtsein, wie auch immer man es nennt, erlaubt uns, uns so zu kleiden, wie es uns gefällt. Das schwierigste daran ist, es zu erkennen.
ciao, christian