So ist es, vieles "verwächst" sich während der Entwicklung, vieles festigt sich. Was es ist, wird eben in den ersten Jahren hauptsächlich durch die Umwelt und das Umfeld des Kindes geprägt. Doch auch gewachsene Strukturen sind nicht immer gut, sie können eben auch derartig einengen, um keine neue Etwicklung zuzulassen. Wer will den schon eine Kopie von sich selbst? Nur Egoisten. Erziehen wir Kinder, lassen wir Kinder sich entwickeln. Sie werden Fehler machen! Ganz sicher jeden Tag. Gut so, denn nur so lernen sie, welche Dinge sie mögen und welche nicht. Daher stecken kleine Kinder auch alles in den Mund. "Wie schmeckt es? Wie fühlt es sich an?" Egal ob es der regenwurm ist, den sie in der Wiese entdeckt haben, der Autoschlüssel von Papa oder das Stückchen Birne, das die Oma reicht. Sie mögen es oder eben nicht. So lernen Sie nach und nach mit allen Sinnen zu begreifen.
Wenn die Äpfel am Baum nicht reif waren, sagten mir oft meine Eltern und Großeltern, dass ich sie nicht essen soll. Ich habe es trotzdem probiert. Mir haben diese harten und unreifen Dinger dann nicht geschmeckt, machmal auch mit Nachwirkungen... So lernte ich, wann der beste Zeitpunkt für das "vom Baum pflücken" ist, durch Fehler in der Auswahl der Früchte zu unterschiedlichen Reifegraden. Heute kann ich ganz gut beurteilen, wann der beste Zeitpunkt zur Ernte in unserem Garten ist, und das nicht nur bei den Äpfeln

Relativ früh durfte ich als Schulkind entscheiden, was ich trage. Die Rahmenbedingungen steckten meine Eltern wie "heute ziehst Du aber eine Jacke an" oder "Heute wirds sehr warm". Dem entsprechend suchte ich mir aus, was ich tragen möchte. Ich bin in den 80ern zur Schule gegangen. Bunte Schnürsenkel in verschiedenen Farben links und rechts waren mal in. Ich hatte sie. Lederjacke mit Modeschmuck an den Schultern oder Fransen am Ärmel, Bunte Hemden oder Shirts, auffällge Aufdrucke am Rücken oder Button am Kragen, ich hatte auch mal eine blaue Halskette, so wie eine Panzerkette, sehr große Glieder aus Aluminium in Dunkelblau Metallic. Oder eben auch farblich auffällige Jacken. Ich habe es alles getragen, egal ob andere so rumgelaufen sind oder nicht, ich habe mich an den Rock- und Popstars orientiert, große Geschwister hatte ich nicht.
Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, dass wir mal ein Paket mit Kleidung von einer befreundeten Familie bekamen. Die Hosen und Pullover passten mir, mached gefielm ir gut und anderes eben nicht. So zog ich eine schöne weiche graue Cord-Hose dann gern in die Schule an. Meine Mutter war Schneiderin, ich konnte gute Qualität von schlechter schon früh unterscheiden. Sie ließ mich tragen, was ich mochte und fertigte mit auch wunderschöne Hosen oder Jacken aus Stoffen, die sonst keiner trug. So gefiel mir eben auch diese Cord-Hose, ganz anders als diese rauhen, die ich sonst kannte, kein bisschen steif, sondern unheimlich weich. Es wurde meine Lieblingshose, so bequem war sie. Mich störte nicht, dass der Reißverschluss anders eingenäht war als bei meinen anderen Hosen, bis mir eine Klassenkameradin sagte: "Das ist eine Weiberhose". Ich habe mich sehr drüber geärgert, es hatte mich bis dahin nicht gestört. Ich trug die Hose jedoch weiter. Ausser ihr hatte es niemand angesprochen, also spielte es eben keine große Rolle, denn Sie beließ es bei kleinen Sticheleien. Damit konnte ich leben, denn irgendwann hörte Sie damit auf. Ich hatte also gewonnen. Ich hatte die Erkenntnis gewonnen: Egal, was Du tust, es wird immer jemanden geben, dem es nicht gefällt. Sie trägt doch auch manchmal Sachen, die mir nicht gefallen...
Du kannst Dich dem Geschmack anderer also fügen und es in Zukunft lassen, oder Du tust es einfach. Tun stärkt das Selbstbewusstsein. Zweifeln und grübeln macht unsicher. Irgendwann wurde die Hose an den Seitennähten dünn, ich war ihr entwachsen. Das Thema "Weiberhose" war damit erstmal durch.
So hat irgendwan jeder in seiner Entwicklung mal Entscheidungen getroffen, die er zum damaligen Zeitpunkt für richtig hielt (die Äpfel sehen gut aus, mal probieren) und vielleicht später festgestellt, es war nicht die richtige Entscheidung (Bauchweh und Durchfall). Egal. Hätte ich es nicht probiert, ich hätte es nicht gerlernt und würde vielleicht nie einen Apfel zum richtigen Zeitpunkt frisch vom Baum pflücken und sofort essen wollen.
Wer frei ist von gescheiterten Versuchen in seiner Entwicklung, hat sich nicht wirklich entwickelt. Wer frei ist von Fehlern oder Schuld, der werfe den ersten Stein - aber wählt mit Bedacht, er könnte euch auf den Fuß oder Kopf fallen.... ich bin gerne Mensch. Nicht fehlerfrei, aber eben ich selbst. Und ich mag mich, wie ich bin. Geben wir anderen auch diese Freiheit. Die Chance, sich statt zu einer Kopie von irgendwas/irgendwem lieber zu einem Individuum zu entwickeln. Einem wertvollen Menschen eben.