Ich frage mich, ob es schon "immer" eine gewisse, gewiss geringe Zahl Männer gegeben hat, die sich nicht männerkonform gekleidet haben, aber dennoch als Männer verstanden haben.
Vielleicht ist die - scheinbar steigende - Zahl dieser Männer von heute (prozentual) gar nicht höher als in den Jahrzehnten davor, sagen wir in den 70ern, den 60ern, den 50ern usw. oder auch in den Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.
Ich jedenfalls musste nicht erst ein "gestandener Herr" werden, um Gefallen daran zu finden, und um jenseits von zu hause und jenseits von (immer öfter gewordenen) Alltagsfluchten allmählich mein Kleidungsgebahren noch während des Studium auch quasi in meine berufliche Laufbahn mit einzubringen. Ich habe das gemacht, weil ich es einfach wollte.
Natürlich habe ich viel gezaudert und Jahre, ja Jahrzehnte daran geknappert. Und ich weiß noch, wie ich zu anfangs auf Tafeln oder auf Tische solche kleinen Kurzbotschaften kritzelte wie "Röcke für alle" oder "Röcke auch für Männer" - und vermutlich hat keiner der Tausenden jungen Männer an meiner Hochschule mit dieser Botschaft wirklich etwas anfangen können.
Merkt Ihr, wie die Männer in einer hoffnungslosen Endlosschleife stecken?
Wir sind weit davon entfernt, dass Männer sich trauen, in was anderes als Hosen sich zu kleiden. Sie befürchten soziale Repressalien, sie befürchten das Aus jeglicher Karrierechancen oder gar Jobverlust. Auf diese Weise entgehen sie nicht der Hosenfalle.
Klar, dass mit so viel Angst Männer ihre Söhne ebenso mit allen Mitteln versuchen, das endlose Hosendiktat als ein Muss für ein gutes Leben schmackhaft zu machen.
Wenn wir, als gestandene Herren und breiter Rockerfahrung, schon unseren potentiellen Söhnen mit erhobenem Zeigefinger aufzeigen, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, und gar prognostizieren, dass sie weggespült werden, wenn sie gegen den Strom schwimmen, wer soll denn überhaupt den Impuls in die Gesellschaft setzen, dass das Symbol Hose am Mann nicht mehr unverzichtbar ist?
Wer am wenigsten in diesem Hosenstrudel gefangen ist, sind die Frauen. Und da Frauen am eigenen Leib erleben, dass Kleidungsfreiheit auf breiter Basis akzeptiert ist, wäre es am ehesten zu erwarten, dass kluge Mütter die Ideen entwickelten, auch ihre Söhne zu ermutigen, sich mehr Freiheiten zu gönnen.
Objektiv betrachtet und aus modernem humanem Verständnis heraus macht es keinen Sinn, einer Hälfte der Bevölkerung deutlich mehr Freiheiten einzuräumen als der anderen Hälfte der Bevölkerung.
Und da wären eben junge Mütter für mich die Hoffnungsträger, aus der Endlosschleife des Hosendiktats für Männer auszubrechen, und ihren Söhnen auf den Weg zu geben, dass sie mit Selbstbewusstsein sagen können, "da will ich raus", so wie die Großmütter damals aus ihren vorgeschriebenen Röcken und Kleidern raus sind. Und die Menschheit ist damals nicht daran zugrunde gegangen.
Stattdessen schüren junge Mütter genauso die Ängste und brechen das Selbstvertrauen ihrer Söhne und befeuern weiterhin die Endlosschleife. Ohne Selbstvertrauen wäre Columbus nicht nach Westindien gekommen (wäre in mancher Hinsicht vielleicht sogar besser gewesen). Ohne Selbstvertrauen hätten die Ost-Samoer aus Polynesien nicht Madagaskar besiedelt, mit einfachsten Mitteln. Ohne Selbstvertrauen von einigen hätten wir etliche Komfortgüter nicht, die unser Leben heute so bereichern.
Und es ist das gebrochene Selbstvertrauen, weshalb wir noch immer tief in diesem Hosendiktat festsitzen. Es ist das gebrochene Selbstvertrauen, weshalb sich Männer nicht reihenweise für Röcke interessieren. Es ist nicht mangelndes Interesse, es ist, weil sie das Interesse daran nachhaltig zertrümmert bekommen haben. Und dabei ist es doch nur ein Stück Stoff hier und da, bzw. da mal eben nicht. Im Rock oder Kleid kann man sich immer noch anständig kleiden. Es geht - außer bei sicherheitsrelevanten Tätigkeiten - nicht um Sinn stiftendes, es geht nur ums Symbol.
Und da traue ich den Müttern eben das größte Potenzial zu, diese ewige Endlosschleife zu durchbrechen. Stattdessen lamentieren viele noch immer mit Angst vor Mobbing, Verlust an sozialem Ansehen, keine Chance auf sozialer Teilhabe. Und festigen damit weiter das Hosendiktat.
Natürlich würde ich meinen Sohn auch auf die potentiellen Gefahren vorbereiten, viel von mir erzählen, von meinen Erfahrungen, den guten wie den schlechten. Ich würde ihn ermutigen, wenn er es wollte (Röcke zu tragen). Ich würde aber, wenn er es nicht wollte, Anreize setzen, es auszuprobieren. Wobei es natürlich nicht den einen Punkt gäbe ("Ich muss mit Dir mal reden"), sondern er hätte von kleinauf ja schon etliches darüber erfahren und sein eigenes Bild, von mir begleitet, sich davon machen können.
Edit: Mobbing gab es schon immer. Auch bevor es diesen Begriff dafür gab. Der Angstfaktor Social Media ist berechtigt, aber ist er denn wirklich so viel bedeutsamer als das Mobbing in einer Gemeindeschule der 50er Jahre im idyllisch-abgelegenen Dorf auf dem Land?