Lieber Harry, lieber Asterix, und wen es sonst noch interessiert!
Harry,
ich habe den Eindruck, Du schreibst, was ich schon schrieb, nur mit anderen Worten: Die meisten Menschen gewöhnen sich eine gewisse Bequemlichkeit an und verfallen in zunehmendem Alter in Routine.
Evolutionsbiologisch macht das auch Sinn, denn in der Zeit, in der sich unsere Vorfahren das angewöhnten, hat man mit unter 20 alles gelernt, was man zum Überleben brauchte. Die Lebensbedingungen blieben lange Zeit, also Jahrhundertausende, wenig verändert. Da reichte es, alles Notwendige in jungen Jahren zu lernen und es danach nur noch zu perfektionieren. Das hat sich dann auch genetisch weitervererbt, bis heute. Nur da sich heute die Lebensbedingungen alle paar Jahre bis Jahrzehnte ändern, ist dieses Verhalten nicht mehr zeitgemäß. Dummerweise lernen die Gene nicht so schnell um. Deswegen kann heute als, wie Du es nennts, "lebensvernichtend" sein, was über 2 Mio Jahre lebenserhaltend war.
Es ist ja auch so, dass Neudenken, Umdenken, Lernen, Akkomodieren, viel Energie und Zeit verbraucht. Diese Energie und Zeit haben nur Menschen, die nicht um das Überlebensnotwendige kämpfen müssen. Oder die, die umlernen müssen, um zu überleben, in der heutigen individualisierten, unsolidarischen Wettbewerbsgesellschaft, in der die Stärksten und Cleversten und zugleich Gierigsten das Tempo bestimmen und anderen aufzwingen.
Es ist aber nicht so, dass nur Einflüsse von außen unser Verhalten bestimmen, sondern die Gene bilden die Grundlage. Was die Motivationen angeht, so unterscheiden Psychologen zwischen intrinsischen, also von innen, und extrinsischen, also von außen kommenden. Die intrinsischen sind a) genetisch und b) durch interne Verarbeitung von allerlei verusacht. Also auch da spielen von außen kommende Einflüsse eine Rolle. Die rein extrinsischen haben weniger eigene "Rechenleistung" zur Ursache. Aber auch die sind nicht unabhängig von dem, was aus dem Inneren kommt. Irgedwie scheint mir diese Grenze zwischen innen und außen auch selber eine Festlegung durch unser Denken.
Die Art, wie wir denken, ist ja auch sehr zeitgeistabhängig, mit unseren Vergleichen von Gehirn und Computer, mit unserer Betonung ökonomischer Motivationen, wie Energieeinsparung, Behauptung im Wettbewerb usw.
Vielleicht gibt es zusätzlich zu Genen und Umwelt noch eine Größe x, die das menschliche Handeln bestimmt, die Seele, das Selbst, der Atman oder Gott, Schicksal, Bahman, Tao oder so. Vielleicht ist diese Größe x aber auch gar nichts zusätzliches, sondern das Zusammenspiel von allem. Das entzieht sich dem wissenschaftlichen Denken, so wie wir heute Wissenschaft verstehen. Es ist religiöses Denken. Aber auch unser Wissenschaftsverständnis ist nicht absolut, sondern zeitgeistbedingt, oder eben, wie Du es nennst, "fremdgesteuert".
Nur, wie gesagt, die Grenze zwischen femd und eigen ist wohl gar nicht so deutlich. Mir gefällt das Bild des Menschen als Knoten in einem Netzwerk. Die Fäden treffen diesen Knoten nicht zufällig, sondern der Knoten besteht aus diesen Fäden. Das heißt, ich bin nicht x, das von Genen und Umwelt beeinflusst ist, sondern ich bin Gene und Umwelt. Und jeder Mensch ist das auf ganz eigene Weise. Das ist dann unsere jeweilige Individualität.
Trotzdem können wir uns von bestimmten Einflüssen, sowohl der Gene als auch der Umwelt unabhängiger oder abhängiger machen. Wir können einen Willen entwickel und ihm nachgehen. Wir können dazu lernen oder gar völlig neu lernen. Einer kann das besser, ein anderer schlechter.
Wir können uns vom gesellschaftlich, als umweltbedingten Hosenzwang befreien. Wir können uns bis zu einem gewissen Grad von genetisch angelegten männlichen Verhaltensweisen befreien. Letzteres machen wir gerade nicht, da wir miteinander diskutieren und jeder am schönsten singen will.

Na ja, ich hör mal auf für heute. Da läuft gerade so ein schöner Film über das Kartschal-Gebirge in der Türkei. Davon habe ich noch nie was gehört und will gerne was darüber lernen.

LG, Michael