Danke für Eure vielfältigen Reaktionen auf mein erlebtes lebendiges Beispiel von Ausgrenzung aufgrund von Kleidung.
Wobei es vielleicht sogar die Frage ist, ob hier wirklich nur die Kleidung die entscheidende Rolle spielt - man könnte fragen, ob der Einsatz einer (zudem noch so schlecht sitzenden) Perücke auch noch unter den Begriff Kleidung fällt.
Aber im Fall vom 'Allerscheensten' - mir gefällt der Begriff, ausserdem erleichtert es mir, diese konkrete Person künftig hier im Forum zu benennen - im Fall vom 'Allerscheensten' scheint es der gesamte Habitus zu sein, der ihn auf diese Weise brandmarkt.
Mir juckt es in den Fingern, diese Person weiterhin eher im Thread 'Rocker gesichtet' zu analysieren, denn ich habe ihn gestern wieder gesichtet und wieder ein Fitzelchen mehr von, besser: über ihn erfahren.
Und hier im Thread, soweit förderlich, eher besonders auf den Charakter der Erscheinung und vor allem auf den Charakter der Interaktion zwischen ihm und 'der Gesellschaft' einzugehen. So ganz schlüssig bin ich mir noch nicht bei dieser thematischen bzw. 'räumlichen' Trennung hier innerhalb des Forums. Oder wäre er gar eines eigenen Threads würdig? Die Gefahr, ihn dann vielleicht 'zu verheizen', wäre im letzten Fall vielleicht recht groß.
Jedenfalls ist dieses Fitzelchen Plus an Rückmeldung von gestern über ihn hier ja auch noch irgendwie relevant.
Alla dann: eine Bekannte von mir hatte vorgestern, also am Tag meines Erlebnisses, eine ziemlich direkte Begegnung mit ihm. Sie war in einer Eck-Boutique mit ausschließlich Damenmode (eher für recht junge Frauen). Da kam der 'Allerscheenste' (anders als am Abend gekleidet, nämlich am Mittag trug er ein weißes Kleid mit Transparenzen) hinein, sagte keinen Mucks, und stöberte still ein paar Minuten durch die Klamottenauswahl.
Meine Bekannte beobachtete, wie die recht jungen Verkäuferinnen vor ihm geflohen sind und jeglichen Kontakt vermieden. Die Bekannte sagte: 'Die hatten förmlich Angst vor ihm'. Was sie dann auch nachher, als er wieder wortlos den Laden verließ, noch aus den Reaktionen der Verkäuferinnen vernahm.
Ähnlich wie einige Rückmeldungen von Euch bzgl. meines 'feeemininen Outfits' ('
Germania'

) resümierte diese Bekannte wie folgt (und die Umsitzenden bestätigten das ebenso) :
"Du" (also ich bin gemeint...) "wirkst einfach so wie Du bist: natürlich, authentisch, wie ein normaler Mensch, der halt ein Kleid trägt oder einen Rock anhat. Der da" (der 'Allerscheenste') "wirkt unecht, verkrampft, auf Anhieb unsympathisch." Ja, das Wort 'abstoßend' ließ jemand noch fallen.
Außerdem könne man mich sehr viel leichter 'einsortieren' und dementsprechend einschätzen, wie man mit mir umgehen solle. Im Gegensatz zu 'ihm', wo sogleich 7 Fragezeichen über ihn schweben würden.
Und ich glaube, hier sind wir an einem zentralen Punkt. Das Argument "Jeder soll doch so rumlaufen, wie er/sie will" ist zwar ein herrlich einfaches Argument, zählt aber im Umfeld von anderen Menschen (in der Interaktion von Menschen, und sei sie nur das Passieren, also unter Passanten, oder im einfachen Verkäufer-/Kunden-Kontakt eines kurzen Bezahlvorgangs) nicht so vollkommen ausschließlich.
Weil: Kleidung und Erscheinungsform einer Person sind, wie richtig hier jemand auch erwähnte, Kommunikation. Und die Frage, wie viel Ungewohntes man in dieser Kommunikation/Interaktion aushalten kann und was einen überfordert, ist nicht nur das Problem des sich daran störenden Menschen, sondern geht auch von den Ausdrucksmöglichkeiten jenes Menschen aus, der die geordnete Welt mit einem Wanken herausfordert.
Was jetzt hier ziemlich abgedreht theoretisch klingt, ist einfach so: Ich werde offensichtlich viel leichter integriert als er. Ich fange langsam an, ihn sogar zu bedauern, z.B. als 'armer Tropf' - und da bin ich nicht der einzige. Jedenfalls strahle ich aus, dass ich mich wohlfühle. Vielleicht fühlt er sich ja auch wohl (in irgendeiner Weise, sonst würde er es vermutlich ja auch so nicht tun), aber das größte Problem ist, dass er das eben ganz und gar nicht ausstrahlt.
Die Frage danach, ob er sich vielleicht absichtlich ausgrenzt, gar nicht integriert werden will, wage ich zu bezweifeln.
Er sucht seit Jahren - seit etwa vier Jahren ist er mir begegnet - immer wieder auch Massenveranstaltungen auf. Er sitzt oft mittendrin - meist an gut einsehbaren Stellen, so wie vorgestern ja auch. Ich tu das ja auch, durchaus auch gerne mal allein. Und manchmal bin ich bei sowas auch vollkommen allein geblieben, manchmal ungewollt, manchmal gewollt. Alleine bleibt er auch. Ich kenne das durchaus.
Ich glaube, er sucht schon die Nähe. Leider aber wirkt er vollkommen unnahbar. Ich glaube, da müssen noch einige Impulse von ihm kommen, dass sich daran etwas ändert. Ob es nur am Outfit liegt? Ich denke, ein großes Stück ja. Vor allem diese unsäglichen, meist blonden Perücken machen ihn schon unnahbar. Die passen weder vom Typus noch von der Größe her zu ihm.
Ich habe ihn einmal ja schon ohne Perücke gesehen, das natürliche, dunkle Haupthaar könnte er ohne Probleme offen tragen. Alleine diese Perücken lassen ihn abtauchen, quasi untertauchen, gesellschaftlich betrachtet sozial untergehen. Ohne dieses Kunstgebilde auf dem Kopf würde er sich das alles viel leichter machen.
Gewiss, es ist seine freie Entscheidung.
Die Frage nach den Unterscheidungen, nach den Abgrenzungen - Stichwort zum Beispiel 'Crossdresser' versus 'Transvestit' oder Damenkleidung-Träger.
Trägt jemand ein Kleidungsstück vom anderen Geschlecht (also geschlechtlich 'überkreuz'), würde ja das Wort 'Crossdresser' sehr gut passen. In der Szene ist dieses Wort allerdings schon mit einer anderen Bedeutung vorbesetzt. Bräuchte man ein Wort für also bsp.weise einen Damenkleidung-Träger, wäre es sinnvoller, ein anderes Wort dafür zu finden.
Will man ein Wort finden, so spiegelt sich darin auch die Absicht wider, etwas mit diesem Wort zu beschreiben und auch den Inhalt dieses Wortes gegenüber anderen Erscheinungen abzugrenzen.
Wir finden überall im Alltag Möglichkeiten, uns abzugrenzen, z.B. mit unserer Berufsbezeichnung, oder unserem Status als Schüler, Auszubildender oder Student. Auch unsere Neigungen wie Biker, Radfahrer, Brotesser, Biertrinker, Seriengucker, Tatortfan drücken wir aus, indem wir sie benennen und indem wir uns damit gleichzeitig wiederum von anderen abgrenzen wie von den Golfspielern, Seglern, Whiskeytrinkern, Kinofans.
"Jeder kann doch tragen, was er will!" ist zwar ein ganz einfaches Mittel, alles zu legitimieren, alles zu akzeptieren, alles wertzuschätzen, nichts zu hinterfragen, nichts rechtfertigen zu müssen und so weiter. - Dies funktioniert allerdings erst, wenn tatsächlich
jeder trägt, was er will!
Dass das nicht funktioniert, beweist die Existenz unseres Forums. Wieviele würden denn gerne, aber trauen sich nicht. Wieviele trauen sich zwar, aber nur unter bestimmten Bedingungen und nehmen ansonsten hin, dass es so ist, wie es ist, dass eben doch nicht immer überall
jeder tragen kann, was er will. Oder eben
nicht vieles tragen kann, was er eigentlich zum Wohlfühlen wollte.
Es bestehen doch noch viele Hemmungen, zu tragen, was man will.
Und wenn ich jetzt sage, der obige 'Allerscheenste' trägt wahrscheinlich das, was er will, so sehe ich aber auch, wie sehr er damit auf breite Ablehnung stößt.
Bekommt man mich zu Gesicht, und man verbindet mich mit seiner Erscheinung, so bringt man auch mich mit dieser Ablehnung in Verbindung. Diese Verbindung ist mir unangenehm, weil ich eben nicht auf breite Ablehnung stoßen will.
So ist diese Kategorisierung auch innerhalb unserer Szene 'Rock am Mann' immer wieder wichtig, um sich in einer gewissen Weise abzugrenzen, da die treibenden Kräfte und Formen von 'Rock am Mann' völlig unterschiedlich sind.
Die Grenzen können zwar fließend sein, jedoch sind einzelne Formen und Motivationen zum Teil völlig konträr.
Die einzelnen Schubladen aufzumachen heisst ja nicht, die einzelnen Schubladen abzuwerten. Dienen aber dazu, sich zu verorten, was einem eben wichtig ist, und auch das zu benennen, welche Formen einem aber nicht weiterhelfen.
So ist z.B. - ohne den fließenden Graubereich - die Unterscheidung zwischen 'Transvestiten' und 'Crossdressern' in der klassischen Selbstbezeichnung jener Szene doch fundamental. Die einen wollen schwerpunktmässig sexuelle Attraktion ausüben, die anderen wollen in Frieden aus ihrer zugeschriebenen Kleidungsrolle ausbrechen, indem sie als Frauenerscheinung untertauchen.
Die inhaltlich besetzte Kategorie 'Crossdresser' ist - falls nicht der latente Wunsch da ist, dauerhaft eine Frau zu werden - eigentlich eine fortgeführte Handlung dessen, was Rocktragen nur daheim ausmacht. Rocktragen nur daheim ist ein Verstecken, sich nicht der Öffentlichkeit aussetzen zu müssen. 'Crossdresser' ist ein Verstecken in der Öffentlichkeit, das Mannsein wird versteckt.
Andere - und da ziehe ich mehrere Schubladen - definieren ihren Hang zu Frauenklamotten mit einem weiblichen Anteil. Manche davon definieren sich als irgendwas zwischen Mann und Frau, manche fühlen sich als Frau. Manche werden vielleicht auch in diese Richtung gedrängt, weil das Mannsein Röcke oder Kleider oder andere Vorteile von Frauenkleidung einfach nicht vorsieht.
Ich finde schon, dass all diese Strömungen - und ich habe ja bestimmt auch einiges ausgelassen - nicht unbedingt alle am selben Strang ziehen. Einzelmotivationen und Einzelziele sind völlig unterschiedlich.
Einiges davon sehe ich aber auch als 'Fluchten'.
Flucht davor, weil Männer einfach Hosen zu tragen haben. Punkt.
Nein, dieser Punkt ist nicht gesetzt. Ist nicht Gesetz. Da muss der Radiergummi ran. Der Presslufthammer.
Nur zuhause als Mann Rock zu tragen, das ist Flucht. Die Erscheinung als Frau zu wählen, kann eine Flucht sein.
Flucht davor, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.
Wenn alle Männer dies machen, wird sich daran nie was ändern.
Wenn jeder tragen dürfen soll, was er will, dann müssen auch Männer zu sich und Rock und Kleid genauso stehen dürfen, wie Transmänner, Transfrauen, Teilzeitfrauen, Crossdresser und so weiter zu sich stehen.
Und Männer in Rock und Kleid müssen genauso wissen, wer ihren Weg wie weit mitgeht. Manche kämen gerne mit. Manche wählen einen anderen Weg.
Und deswegen ist auch in der Szene 'Rock am Mann' und drumherum wichtig, die Schubladen zu benennen. So, dass auch wirklich irgendwann jeder alles tragen kann, was er will!