Was mich als gläubigen, spirituellen Menschen nun interessiert:
1. Gibt es eine gemeinsame Wahrheit, die sich in den unterschiedlichen Religionen verschieden ausdrückt?
2. Wenn nicht: Ist nur eine wahr und die anderen falsch?
3. Oder: Basieren alle auf irrigen Vorstellungen?
Die zweite und dritte Frage beantworte ich für mich mit Nein. Also bleibt die erste und der Wunsch, diese Gemeinsamkeit zu finden.
In Deiner 3. Frage steckt eine große Wahrheit. Deine Frage beantworte ich mit Nein! Es gibt zwar einige Menschen, die sich auf welcher Grundlage auch immer anmaßen, zu wissen, was irrig und was nicht irrig sei. Ich mag mir das nicht anmaßen.
Aber Deine 3. Frage drückt es aus: Ja, sie alle basieren auf Vorstellungen. Und ich finde, es ist sehr heilsam, dies zu wissen.
Hiermit erübrigt sich Deine 2. Frage.
Frage 1, wie Du richtig erkannt hast, ist die delikateste. Und da bist Du kraft Deiner beruflichen Tätigkeit mit Sicherheit der von uns allen begabteste, dies zu ergründen.
Die Fragestellung nach der "Wahrheit" ist zwar nicht ganz nüchtern. Für mich kann es nicht die wahre Wahrheit geben. Wahrheiten sind immer relativ. Und auch mit individuellen Interessen beladen, bewusst und/oder auch unbewusst.
Wenn Du mit "Wahrheit" vielleicht auch die Suche nach einem großen gemeinsamen Kern meinst, dann ist die Antwort auf die Ja-Nein-Frage (Frage Nr. 1) eindeutig "Ja".
Ich will den Gedanken ein wenig vertiefen: Schauen wir uns an, wozu Religionen fähig sind, wenn wir den Aspekt, dass Religionen sehr oft auch mit Machtausübung und persönlichen, der Religion nicht selten sogar widersprechenden Interessen gespickt werden und somit mißbraucht werden. - Ja, mit Sicherheit gibt es auch Religionen, die einfach nur oder überwiegend aus solchen "niederen" Beweggründen und Absichten gegründet wurden.
Wie gesagt, lassen wir offensichtlichen oder versteckten Mißbrauch von Religionen bei dem folgenden Gedanken einfach mal weg.
Was leisten Religionen? (ohne den Anspruch auf Vollständigkeit.)
Sie setzen einen moralischen Rahmen, innerhalb dessen die Menschen untereinander sich gegenseitig ein gewisses Grundvertrauen aufbringen können, denn man weiß, dass alle sich überwiegend an diesen Rahmen halten. Mit diesem Grundvertrauen ist es möglich, seine Fähigkeiten, seine Güter, seine Zeit für Dinge aufzuwenden, die ohne diesen Rahmen für das allgemeine Mißtrauen aufgewendet werden würden. Es ermöglicht also nicht nur eine gewisse Basis friedlichen Zusammenlebens, sondern es ermöglicht auch, Dinge zu schaffen, die anderen Menschen nützen, diese Dinge miteinander auszutauschen, Dinge zu entwickeln, Ideen freizusetzen - und auch sich mit spirituellen Dingen zu beschäftigen (also auch ein kleiner

Selbstzweck).
Dieser moralische Rahmen befähigt eine Gruppe/Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln. Ohne diesen geschützten Rahmen wäre z.B. auch Kunst überhaupt nicht denkbar. Kunst in unserem heutigen Sinne ist ein Luxus, den weder primär noch sekundär eine Gesellschaft braucht, und das Individuum noch viel weniger, um zu überleben.
Religion definiert auch die drängende Grundfrage seiner eigenen, zeitlich begrenzten Existenz. Jeder Mensch muss damit lernen umzugehen. Viele verdrängen diese Gedanken, bis sie merken, dass sie nicht ewig 28 bleiben. Oder wenn die eigenen Eltern oder andere liebe Menschen uns für immer verlassen. Diese Grundangst, vertraute Menschen für immer zu verlieren, und irgendwann selber dazugehören, nicht mehr da zu sein, definieren Religionen. Und vermutlich sind es nicht nur wir Menschen, die erkennen, dass ihre eigene Lebenszeit endlich ist.
Und hierfür helfen Bilder, die es erleichtern, mit dieser latenten Grundangst umzugehen. Diese liefern die Religionen. Vermutlich waren es genau diese Bilder, die den Anfang von Spiritualität und Religion setzten.
Es sind Bilder. Die einen hoffen auf ein "Leben nach dem Tod", andere erhoffen sich unendlich viel Spaß im Beisammensein mit einer endlichen Zahl von Jungfrauen, andere hoffen, dass sie einfach irgendwann wieder kommen. Alles Bilder, die helfen, mit der eigenen Endlichkeit besser klarzukommen.
Da ich auf die Frage "Was leisten Religionen?" nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, belasse ich es bei diesen zwei Aspekten: moralischer Rahmen und die Hoffnung auf ein Weitergehen nach dem Tod.
Und das sind die Gemeinsamkeiten, die (zumindest) die (meisten) Religionen beinhalten. Vielleicht kannst Du, MAS, die als die "gemeinsame Wahrheit" bezeichnen, oder wenigstens als einen kleinen Wegweiser auf dem Weg zur "gemeinsamen Wahrheit" ansehen.
Und in diesen Religionen drücken sich diese beiden Aspekte in der Tat auch unterschiedlich aus. Darum ist die Antwort auf Deine 1. Frage: Ja.
Noch ein weiterer kleiner Gedanke. Du schriebst gestern oder heute irgendwo von Schlüsselpersonen, die ihre eigene Erfahrungswelten in "Gesetze", "Gebote" oder dergleichen ausgedrückt haben. Ja, das erklärt, weshalb es zum Teil so verschiedene Ansätze in Religionen gibt. Sie haben viel, längst nicht nur, aber viel mit den Zeiten und Regionen zu tun, in denen sie entstanden sind. Auslegungen von anderen Personen zu anderen Zeiten in anderen Regionen bringen die Notwendigkeit mit sich, dass sie anderes aufgefasst werden, als sie mal gemeint waren. Und die Gefahr, mißbraucht zu werden. Aber den Mißbrauchsaspekt hatte ich ja zur Annäherung an Deine 3 Fragen von oben ausgeklammert.
Jedenfalls agieren Religionen mit Bilder. Mit Vorstellungen. Die halt unterschiedlich sind. Aber alle genauso "wahr" wie "irrig" sind. Die aber auch helfen können. Die uns allen genutzt haben. Sonst würden wir noch in Höhlen wohnen. Und hätten noch nicht einmal die Chance, Hosen hassen zu können, weil unsere Frauen ja gar keine Zeit hätten, Hosen zu nähen.
Was ich bisher gefunden habe: Heilsam ist die Überwindung des Egoismus und das Erlangen eines Vertrauens, das einem auch angesichts unserer Sterblichkeit und unserer Leidenschaften ein Gefühl der Geborgenheit in einem größeren Sinnzusammenhang gibt.
Da kommt aber die Frage: Muss man daran arbeiten oder wird einem das geschenkt? Oder beides: Zuerst bindet man das Kamel an und dann wird es einem geschenkt, dass es nicht wegläuft?
LG, Micha
Beides. Aber eigentlich wird es uns geschenkt, den meisten von uns jedenfalls. Manche haben da eher Pech gehabt. Ist wie mit allem, man kann es sich nicht aussuchen.
Aber eigentlich wird es uns geschenkt, wir müssen aber dran arbeiten, es nicht wegzuwerfen.
Ich will es nicht weiter begründen, ausser mit einem Bild, das auch irgendwie zu den obigen 3 Fragen passt.
Wenn wir Auto fahren, vertrauen wir auch darauf, dass andere sich überwiegend an die Verkehrsregeln halten - und wenn nicht, dann jedenfalls so verantwortungsvoll mit der Fortbewegung und den dafür geschaffenen Mitteln (z.B. Autos) umzugehen, dass mir, aber auch dem anderen nicht passiert, was materiellen oder gesundheitlichen Schaden zufügt.
Wir müssen darauf vertrauen, dass wir auf einer Vorfahrtsstrasse mit Vorfahrt fahren können, ohne uns bei jeder Einmündung oder Kreuzung damit beschäftigen zu müssen, dass jemand uns diese Vorfahrt nehmen könnte. Dies ist ein gegenseitigens Grundvertrauen. Ohne dieses wäre Autoverkehr nur sehr eingeschränkt möglich.
So ist es mit allen anderen Dingen im Miteinander mit anderen Menschen auch. Fehlt uns dieses allgemeine Grundvertrauen, müssten wir Eremit werden. Oder in ein Kloster eintreten. Oder wir werden irgendwann woanderes eingeliefert.
Lieber MAS, ein allerletztes: Das mit dem Kamel. Oder mit dem Autoverkehr. Hättest Du ein Auto, so würdest Du, wenn Du es verlässt, auch abschließen. Zum allgemeinen Grundvertrauen gesellt sich immer auch ein gewisses Grundmißtrauen.