Man muss aber auch sagen, dass die Demokratie in Deutschland früher anders gestaltet war.
Wirklich?
Hat man ein neues GG für die BRD bekommen?
GG = Grundgesetz

Ja, Gregor, in diese Richtung habe ich auch gedacht...
Nein, die Demokratie ist gesetzlich bzw. von der Verfassung nicht neu gestaltet. Da gibt es manchmal ein paar - sagen wir - Kleinigkeiten, wo es irgendwie um die Sitzverteilung geht, um Überhangmandate und so, der Rest ist gleich geblieben.
Naja, nicht ganz, das Gesetzeswerk schwillt von Woche zu Woche an, neue Vorgaben oder neue Gesetzesänderungsgesetze oder irgendwelche Pakete, die dann irgendwelche schrägen Titel tragen wie - satirisch - "Guter-Morgen-Gesetz". Aber das ist Gesetzesbeiwerk, das gestaltet nicht das Grundgesetz neu oder das gestaltet nicht die ganze Demokratie neu.
Ja, Zwurg, früher war alles anders. Alles besser. Das ist das Phänomen, dass man mit steigender Lebenserfahrung sich an früherer Zeiten wohlwollend zurückerinnert, an denen man die Welt frisch kennengelernt hatte und das Gefühl bekam, sie allmählich zu verstehen. Im Laufe der Zeit aber verändern sich Dinge, die man dann nicht mehr so verstehen kann, oder sich so nicht gewünscht hat.
Ja, Zeiten ändern sich. Auch die Parteien. Da gebe ich Dir Recht.
Aber auch wir ändern uns. Wir sammeln zunehmend mehr Lebenserfahrungen. Erfahrungen, an denen wir wachsen. Erfahrungen, mit denen wir Neues lernen können, dürfen, müssen. Lebenserfahrungen, auf die wir manchmal auch sehr gerne verzichtet hätten.
Die ganze Welt ändert sich. Man könnte es mit dem Spruch abtun: Naja, das ist Leben!
Demokratie scheint früher aber auch einfacher gewesen zu sein. Es gab die mehr oder minder großen Volksparteien. Und die kleinen, wo dann auch mal die eine oder andere vom Verbot bedroht war, weil sie sich jenseits des von der Verfassung, von den Gesetzen Zulässigen bewegt haben.
Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik leitet sich ja ab, dass kleine Parteien, früher gerne auch Splitterparteien genannt, keine wirkliche Chance haben, in die Regierung mit einzuziehen. Die Fünf-Prozent-Hürde sorgt dafür. Und früher sind diese mehr oder minder großen Volksparteien unter sich geblieben, weil diese anderen Parteien allenfalls in ein paar Kommunen mal diese Fünf-Prozent-Hürde schafften.
Nach der Wiedervereinigung kam eine neue Partei sozusagen als kulturelles Erbe aus dem Osten hinzu, die Volksparteipotential hatte. Das war soweit alles noch zu verschmerzen.
Wenn Du, Zwurg, sagst, früher war die Demokratie anders gestaltet, so führe ich das mit etwas Nachdenken nicht auf irgendwelche Gesetztesänderungen zurück, sondern dass früher eine andere Parteienkultur herrschte.
So in den letzten 20 Jahren hat sich eine ganz neue Parteienkultur entwickelt. Nach und nach entstehen neue Parteien, die alle um ihre Deutungshohheit kämpfen. Das Wort "Splitterpartei" erhält eine ganz neue Bedeutung, denn der politische Zusammenhalt, die die alten Volksparteien als eine Art schützende Klammer boten, zersplittert sich. Ganz stark davon kann die SPD davon ein Liedchen singen. Immer mehr zersplittert sich, das was man als die politisch links-orientierten Interessen ansehen kann in immer mehr Parteien. Von der Abspaltung nach rechts und der AfD will ich gar nicht erst reden. Themen vermischen sich allmählich irgendwie zwischen links und rechts. Erst gibt Wählerbewegungen von ganz links nach ganz rechts oder umgekehrt. Manche Wähler können gar nicht mehr einsortieren, ob sie nun eher links oder rechts sind.
Während früher die meisten Parteien, die zu Wahl antraten, unter "Andere" und zusammen weit in die Bedeutungslosigkeit zusammengefasst werden konnten und zusammen oft weit unterhalb von 5 Prozent in Summe lagen, geraten zunehmend die althergebrachten Sammelbecken (Volksparteien) in Bedrohung, selbst unter die 5-Prozent-Hürde zu geraten.
Dem einen mag es freuen, dass die Grünen in Brandenburg daran scheiterten, so wie man sich früher daran erfreute, dass die FDP immer mal wieder daran scheiterte. Vor allem, weil die FDP als Umfallerpartei bekannt war, die auf Hauptsache Mitregieren aus war.
Schaut man sich aber das - bislang "vorläufige" - Endergebnis der Wahl in Brandenburg an, so fallen drei Sachen auf:
1.) das ist bekannt: das gute Abschneiden der AfD
2.) das ist bekannt: das erstaunlich gute Abschneiden des neuen BSW, obwohl sie ausser Existenz und flotten Sprüchen noch gar nichts vorzuweisen haben seit ihrer Gründung vor paar Monaten
- über die Punkte 1 und 2 wurde ja in den vergangenen Tagen genügend debattiert in den Medien (ja, wo sonst?) -
aber etwas anderes erschreckt, und das lässt mich daran denken:
"Früher war die Demokratie anders gestaltet"
3.) insgesamt 14,3 % des Wählerwillens scheitert an der Fünf-Prozent-Hürde.
Noch mal zusammengefasst: AfD, BSW - darüber diskutiert man hoch und runter.
AfD die Bösen, BSW aus der Not heraus eher die Besseren.
Geht die AfD in die Opposition, so sind auf einem Schlag knapp 30 Prozent der Wähler nicht durch die Regierung vertreten, sondern die Vertreter sitzen in der Opposition. Naja, sowas ist normal, kein Skandal, kann man verschmerzen.
Vermutlich wird ja noch eine weitere Partei in der Opposition sitzen.
Was aber hinzukommt: 14, 3 Prozent des Wählerwillens sitzt noch nicht mal im Landtag. 14, 3 Prozent bleiben aussen vor! Gemessen an der Wahlbeteiligung von 72,9 Prozent bedeutet das, (mehr als) jeder Zehnte Wahlberechtigte wird mit seinem Wählerwillen nicht mehr im Parlament vertreten (10,4%). Das ist eine durchaus bedenkliche, ja kritische Masse!
Drum muss Demokratie sich einfach auf die neuen Zeiten einlassen und korrigierend einlenken. Es wird höchste Zeit. Ein Zurück zu den großen Volksparteien, jedenfalls den alten, wird es nicht mehr geben, oder nur noch vereinzelt. Die Zersplitterung der Gesellschaft ist einfach zu sehr fortgeschritten. Das Blicken über den eigenen Tellerrand ist unmodern geworden. Das Eintreten für Einzelinteressen ohne Blick auf Zusammenhalt ist der Zeitgeist. Den neuen abgestraften parlamentarischen Verlierern muss Rechnung getragen werden. Sonst geht noch mehr Zusammenhalt verloren.
Noch kurz, ich bin recht mathematisch-technokratisch in manchen Dingen. Ich könnte mir eine Lösung dieses Problems durchaus vorstellen. Z.B. pro 3%-Einheit ausserparlamentarischer (weil an 5%-Hürde gescheitert) z.B. zwei Sitze den gescheiterten Parteien zukommen zu lassen, das nach einem mathematischem oder verhandlungsgestütztem Verfahren auf die gescheiterten Parteien verteilen. Dann kämen da für Brandenburg noch 8 Sitze hinzu.
So würde man die kritische Masse der ausserparlamentarischen Opposition verringern und mehr Bürgern das Gefühl geben, dass sie nicht völlig abgeluuust haben.
Das ist das größte Thema für mich, wo meiner Meinung nach die Demokratie anders gestaltet ist als früher. Es sind nicht immer nur die Vorzeige-Bösen, die die Demokratie bedrohen. Es sind auch noch andere Faktoren, woran Demokratie versuchen muss, sich an die Veränderungen anzupassen. Darüber hinaus kann man die Wähler von extremorientierten Parteien nicht auf Dauer als Fehlgeleitete bezeichnen und sie als Aussätzige behandeln. Man muss sich deren Anliegen versuchen anzunehmen.
Schade, dass in Brandenburg wohl die Lausitzer Allianz nicht angetreten ist, denn die hätte das Vorrecht, als nationale Minderheitsvertretung mindestens einen Sitz der regulären Sitze einzunehmen.